"Träumen von Europa"
29. Mai 2003Mit dem Karls-Preis werden seit 1950 jedes Jahr Spitzenpolitiker - vornehmlich Staatsoberhäupter - und Monarchen ausgezeichnet, die sich um die Einigung Europas verdient gemacht haben. Er gilt als die wichtigste und renommierteste Auszeichnung auf diesem Gebiet. Namensgeber ist Karl der Große, der als Kaiser von 800 bis 814 das erste europäische Großreich regierte und im Aachener Dom beigesetzt ist.
Valéry Giscard d'Estaing gab sich bei seinem ersten Auftritt vor dem EU-Konvent als Mann mit Visionen. "Ich möchte an Ihren Enthusiasmus appellieren. Uns wird oft vorgeworfen, dass Europa nicht zum Träumen veranlasst. Dass wir uns damit zufrieden geben, eine komplizierte, undurchsichtige Europäische Union zu errichten, die nur der Wirtschaft dient. Gut - dann lassen Sie uns von Europa träumen", sagte Giscard. Visionen, die er eigensinnig und arrogant durchzusetzen versucht, wie seine Kritiker meinen.
Besondere Beziehungen
Zu Deutschland hat der heute 78-jährige Franzose eine besondere Beziehung: 1926 wurde er in Koblenz - das damals zum französisch besetzten Rheinland gehörte - geboren. Nach dem Studium an einer Pariser Elite-Universität wurde er zunächst Finanzminister und 1974 französischer Staatspräsident. Im damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt fand er einen engen Freund und ähnlich zielstrebigen Mitstreiter auf internationalem Parkett: Das deutsch-französische Duo rief mit dem Welt-Wirtschafts-Gipfel ein ständiges Forum der führenden Industrie-Nationen ins Leben. Und auf europäischer Ebene schufen Giscard und Schmidt das gemeinsame Währungs-System und die virtuelle Währungs-Einheit ECU. Damit legten sie den Grundstein für die spätere Währungs-Union und die Einführung des Euro.
Anfang der 1980er Jahre jedoch war Giscards Zeit in der großen Politik zunächst einmal vorbei: Fast zeitgleich mit Schmidt, der von seinem christdemokratischen Widersacher Helmut Kohl abgelöst wurde, musste auch Giscard in Paris den Hut nehmen. Zum einen hatte er sich mit Jacques Chirac, der damals Premierminister war, zerstritten. Letztlich scheiterte er bei den Wahlen 1981 an seinem sozialistischen Gegenkandidaten Francois Mitterrand.
Vergebliche Anläufe
Doch Giscard hat das Träumen von Europa nie aufgegeben: 1986 gründete er - ebenfalls im Gespann mit Helmut Schmidt - das Komitee für die Europäische Wirtschafts-Union. Später empfahl sich Giscard selbst für höhere Ämter: Präsident der Europäischen Zentral-Bank wollte er werden - wurde es aber nicht. Dann bemühte er sich um den Posten des General-Direktors des Internationalen Währungs-Fonds - ebenfalls vergeblich.
Schließlich ging sein Traum von einer wichtigen Stellung in der Europäischen Union in Erfüllung: Beim Gipfel im belgischen Laeken im Dezember 2001 nominierten ihn die Staats- und Regierungschefs für den Präsidenten-Posten im EU-Konvent. Der hat die Aufgabe, Vorschläge für grundlegende Reformen der Union auszuarbeiten, damit sie auch nach der großen Erweiterung 2004 noch handlungsfähig ist.
Giscard präsentiert sich hier als Visionär und als Mahner: "Wir müssen es jetzt schaffen, für das vereinigte Europa eine Verfassung für die nächsten 50 Jahre zu machen. Die Zeit vergeht so schnell, und wir dürfen jetzt nicht die Gelegenheit für einschneidende Reformen verstreichen lassen. Wenn wir mit 25 Mitgliedern noch Entscheidungen treffen wollen, dann müssen wir jetzt dafür die Weichen stellen."
Nicht jedermanns Freund
Doch Giscard ist als Präsident des Konvents nicht unumstritten: Seine Kritiker werfen ihm einen arroganten und eigenmächtigen Führungs-Stil vor. Im April 2003 hatte er - ohne Absprache mit den anderen Mitgliedern des Präsidiums - Vorschläge öffentlich gemacht, die eine Stärkung des Rats der Staats- und Regierungschefs bedeutet hätten. Seine Präsidiums-Kollegen reagierten empört - und setzten durch, dass Giscards Vorschläge radikal geändert wurden. Der deutsche Europa-Parlamentarier Klaus Hänsch kritisierte den Alleingang des Franzosen mit deutlichen Worten:
Für Aufregung sorgte Giscard zudem mit seiner klaren Absage an eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Die hatten die Staats- und Regierungschefs der EU im Dezember 2002 beim Gipfel in Kopenhagen in Aussicht gestellt, sofern die Regierung in Ankara weitere Reformen umsetzt. Giscard sprach sich wenige Wochen später in einem Zeitungs-Interview strikt dagegen aus: Die Türkei sei "nicht europäisch", und eine Aufnahme des Landes würde - so wörtlich - "das Ende der EU bedeuten".