Die Wall Street nimmt, was sie kriegen kann
5. November 2020Roger Altman ist verwirrt. "Die Märkte haben mich ziemlich überrascht", sagt der Gründer der Investmentfirma Evercore am Mittwoch, als ihn der Moderator des Börsensenders CNBC um eine Einschätzung bittet. Eigentlich hätten die Märkte doch auf einen Sieg Bidens und mit ihm auf ein starkes Konjunkturpaket gehofft, sagte der 74-jährige kurz nach Handelsstart. "Jetzt aber steigen die Kurse offenbar wegen der Aussicht auf gespaltene Machtverhältnisse im Kongress."
Nicht nur Altman guckt an diesem Morgen verwundert an die Wall Street. Auch viele Experten, die zuletzt glaubten, Amerikas Investoren würden vor allem auf eine sogenannte blue wave, also die Übernahme des Kongresses durch die Demokraten pochen, wurden eines Besseren belehrt. Obwohl der favorisierte Erdrutschsieg der Demokraten ausblieb, feierten die Märkte, als hätten sie ihr Ziel erreicht. 2,9 Prozent konnte der Dow Jones in der Spitze zulegen - und damit die stärkste Post-Wahl-Performance seit 120 Jahren einfahren.
Zur Not muss die FED ran
"Es sieht so aus, als wären die Investoren auch mit einem geteilten Kongress zufrieden", schreibt Barry Bannister, Head of Institutional Equity Strategy beim Finanzdienstleister Stifel, am Mittwoch in einer Analyse. Vor allem die von den Investoren gefürchtete Erhöhung der Kapitalertragssteuer sei jetzt, da der Senat weiter fest in der Hand der Republikaner bleibe, vorerst vom Tisch. Zwar sei die Aussicht auf ein umfassendes Konjunkturpaket nun geringer, was eine Erholung der Wirtschaft gefährden könnte. "Die Märkte hoffen allerdings, dass die US-amerikanische Notenbank einspringen wird, sollten fiskalpolitische Hilfen langsamer kommen als erhofft."
Auch die Sorge, Biden könne Amerikas Tech-Firmen im Falle eines Sieges stärker regulieren oder gar zu zerschlagen, sei mit einem gemischten Kongress vorerst passé. Entsprechend deutlich konnten vor allem die wachstumsstarken Tech-Werte durchstarten. Aktien von Facebook und Alphabet, Googles Mutterfirma, legten bis Handelsschluss gut acht beziehungsweise sechs Prozent zu. Die Technologiebörse Nasdaq Composite notierte am Ende sogar vier Prozent höher und damit so stark wie noch nie am Tag nach einer US-Wahl.
Erhöhte Unsicherheit könnte Märkte belasten
Deutlich stärker unter Druck gerieten hingegen zyklische Werte und Substanzaktien. Sie litten unter der schwindenden Wahrscheinlichkeit auf ein starkes Konjunkturpaket. Auch Industrie- und Aktien aus dem Materialsektor, die von einem Rundumschlag der Demokraten im Kongress und der Aussicht auf Bidens Infrastrukturprogramm profitiert hätten, konnten sich nicht halten. Zudem beendeten Amerikas Versorger und Banken den Tag nach der Wahl im Minus.
Noch wichtiger als die Mehrheitsverhältnisse im Kongress dürfte in den Augen der Wall Street allerdings ein möglichst rascher Wahlentscheid sein. Zwar zeichnet sich aktuell ein Sieg Bidens ab. Selbst ein vermeintlich eindeutiges Ergebnis sei allerdings noch lange kein Auslöser für eine Börsen-Rally, sagen Experten. "Viele Investoren glauben aktuell noch, dass die Wahl in ein paar Tagen abgeschlossen sein wird", sagt Arian Vojdani, Investmentstratege bei MV Financial, der Nachrichtenagentur Reuters. "Erhöhte Unsicherheiten wie mögliche Gerichtsverfahren rund um die Wahl könnten den derzeitigen Marktoptimismus allerdings erschüttern."
Parteizugehörigkeit eines Präsidenten "nicht so wichtig"
Dass die Wall Street im Falle eines angefochtenen Wahlausgangs einbrechen dürfte, zeigt nicht zuletzt die US-Wahl im Jahr 2000. Fünf Wochen stritten die damaligen Präsidentschaftskandidaten George W. Bush und Al Gore um entscheidende Wählerstimmen im Bundesstaat Florida. Während der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten schließlich Bush zum Gewinner und Gore zum Verlierer machte, war von Durchatmen an der Wall Street keine Spur. Bis Jahresende fiel der S&P500 acht Prozent, der Nasdaq Composite sogar rund 20 Prozent.
Auf lange Sicht allerdings dürften die Märkte profitieren - unabhängig davon, wer das Weiße Haus erobert und wann. "Die Geschichte zeigt, dass die Parteizugehörigkeit eines Präsidenten kaum einen Unterschied macht, wenn es um langfristige Renditen geht", sagt Chao Ma, Vermögensstratege bei Wells Fargo, bei CNBC. Der Zustand der Wirtschaft und die Gewinne der US-Unternehmen seien viel wichtigere Treiber als die Partei im Weißen Haus. "Wir erwarten, dass das auch weiterhin so bleiben wird, über die diesjährige Wahl hinaus."