Trotz Währungskollaps: Erdogan bleibt stur
1. Dezember 2021Die Wirtschaftskrise versetzt die Türkei in eine Kältestarre. Seitdem die Rohstoff- und Energiekosten explodiert sind, heizen viele Türken ihr Heim mit Kohle oder Holz - Erdgas ist zurzeit eine kostspielige Luxusressource. Der Grund für die hohen Preise auf dem Energiemarkt ist die Währungskrise, die in der Türkei seit nunmehr drei Jahren grassiert. Die hohe Inflation von knapp 20 Prozent setzt die türkische Lira unter Druck. Die Währung befindet sich seit Jahren im Sinkflug und erreichte zuletzt praktisch täglich neue Tiefststände. Am Mittwoch zog die türkische Notenbank die Reißleine und intervenierte erstmals seit sieben Jahren am Devisenmarkt. Das stoppte zumindest vorerst den weiteren Verfall der Lira - wie nachhaltig die Maßnahme ist, muss sich erst noch zeigen.
Notenbank führt Ruin der Lira herbei
Das wäre für Präsident Recep Erdogan wichtig, denn in der türkischen Bevölkerung wächst der Unmut darüber, dass seine Politik die Turbo-Inflation und die damit verbundenen Preisschwankungen nicht in den Griff bekommt. Die Lösungsansätze der türkischen Regierung, sowohl in der Wirtschafts- als auch in der Geldpolitik, laufen ins Leere. Ungeachtet dessen hat die türkische Zentralbank auf Erdogans Geheiß Mitte November beschlossen, den Zinssatz von 16 auf 15 Prozent zu senken - erst im Oktober hatten die Währungshüter den Schlüsselsatz um zwei Prozentpunkte nach unten gesetzt.
Den Leitzins im Falle einer Inflation zu senken, ist nach der gängigen Wirtschaftslehre jedoch unüblich - normalerweise bekämpfen Notenbanken eine zu hohe Inflation mit einer Anhebung des Zinsniveaus. Die Lira kollabierte, wie von vielen Experten prognostiziert, nach dieser Entscheidung regelrecht: Zeitweise wurden auf den Märkten für einen US-Dollar mehr als 14 Lira gezahlt. Das bedeutet eine Abwertung der türkischen Währung um 45 Prozent seit Beginn des Jahres.
Erdogan bleibt stur
Der Kurs wird maßgeblich von Erdogan beeinflusst, der als erklärter Gegner hoher Zinsen gilt. An diesem Mittwoch tauschte er den Finanzminister aus, der gerade erst ein Jahr lang im Amt war: Lütfi Elvan wird durch seinen Vizeminister Nureddin Nebati ersetzt. Wiederholt hat der türkische Präsident auch das Spitzenpersonal der Notenbank ausgewechselt, sofern es nicht seine geldpolitische Agenda umgesetzt hat. Obwohl Erdogans Zinssenkungen die Entwertung der Lira begünstigt hatten, lässt er sich nicht von seinem Mantra - "Zinsen sind die Ursache, Inflation das Resultat"- abbringen.
Erdogan hatte dies erst am Dienstag (30.11.) wieder im staatlichen Sender TRT erneuert: Die Türkei setze den Schlüsselzins herab, um Investitionen, Beschäftigung, Produktion und Wachstum voranzutreiben. Er wiederholte somit seine unorthodoxe Überzeugung, dass hohe Zinsen den Preisauftrieb verursachten. Von diesem wirtschaftlichen Modell wolle er nicht abrücken.
"Dollar-Noten unter dem Kopfkissen"
Der Ökonom Soner Kuru verweist darauf, dass sich der Markt und die Menschen bereits darauf eingestellt hätten, dass Zinssenkungen langfristig fortgesetzt werden. "Die Menschen versuchen nun alles, um ihr Geld vor der Inflation zu retten. Aber selbst wenn der Sparer nun Gold kauft, führt dies indirekt zu einer Steigerung des Wechselkurses", da auch das Edelmetall vom Dollar abhängig sei, erklärte er.
Die Menschen in der Türkei seien bereits seit 2013 mit ständig steigenden Dollar-Preisen konfrontiert, meint Kuru. Immer mehr Menschen würden jetzt versuchen, mithilfe der Fremdwährung ihr Vermögen zu sichern. "Die Leute werden zukünftig häufiger mit Dollar-Noten unter dem Kopfkissen schlafen", sagt Kuru. "Wir befinden uns in einer Zeit, in der sogar Leute, die nie Geschäfte mit Dollar machten, nun in dieser Währung einen sicheren Hafen sehen."
Wirtschaftswachstum zu jedem Preis
Erdogan betonte gestern außerdem, dass er der Türkei in diesem Jahr ein starkes Wirtschaftswachstum zutraut. Mindestens zehn Prozent sollte das Bruttoinlandsprodukt zulegen, fügte er hinzu. Die Kernindikatoren für die türkische Konjunktur seien sehr stark und das Land warte derzeit auf langfristige Investitionen aus dem Ausland.
Während die Geldentwertung sich im Inland problematisch auswirkt, profitieren ausländische Exporteure und Investoren von der schwachen Lira. Teils abhängig davon, kann sich die Wachstumsrate der türkischen Wirtschaft sehen lassen: Nach Angaben des türkischen Statistikinstituts (TÜiK) ist die türkische Wirtschaft im zweiten Quartal 2021 um 21,7 Prozent gewachsen - die höchste Wachstumsrate seit 1999. Ein Aufschwung, der jedoch nicht im Geldbeutel der türkischen Bevölkerung ankommt - besonders Grundnahrungsmittel, deren Preise in den letzten Monaten exorbitant in die Höhe geschossen sind, sorgen auf türkischen Märkten für Unmut.
Der Text ist eine Aktualisierung eines Berichts vom 18.11.2021