Trotz Verbot: Memorial-Gedenken an Stalin-Opfer in Russland
29. Oktober 2023In Russland haben Bürger in mehreren Städten der Opfer politischer Repressionen zu Sowjetzeiten gedacht - trotz enormer Einschränkungen durch die russischen Behörden. Mit Blick auf den offiziellen Gedenktag am 30. Oktober legten etwa am Lubjanka-Platz im Zentrum von Moskau bereits an diesem Sonntag unter anderem mehrere Botschafter westlicher Staaten Blumen ab. Eine von ihnen war die Botschafterin der USA, Lynne Tracy.
Zahlreiche Menschen wohnten am Sonntag in der russischen Hauptstadt der Verlesung von Namen von Menschen bei, die unter der Herrschaft des sowjetischen Diktators Josef Stalin in den Jahren von 1936 bis 1938 hingerichtet wurden. Traditionell findet das von der 2021 von russischen Behörden aufgelösten Menschenrechtsorganisation Memorial veranstaltete Gedenken am Solowezki-Stein statt. Dieses Mahnmal befindet sich gegenüber dem ehemaligen Sitz des sowjetischen Geheimdienstes und heutigen Sitz des russischen Nachfolgers FSB am Lubjanka-Platz. In diesem Jahr war das Mahnmal allerdings von Metallabsperrungen umzäunt und von zahlreichen Polizisten bewacht.
Memorial teilte mit, die Behörden hätte eine Versammlung am Lubjanka-Platz untersagt. Nur vereinzelt wurden Menschen von der Polizei zum Solowezki-Stein gelassen. Auch der Ko-Vorsitzende von Memorial, Oleg Orlow, war vor Ort. Er war erst kürzlich wegen wiederholter "Diskreditierung" der russischen Armee zu einer Geldstrafe verurteilt worden.
Verbot aufgrund von Anti-Corona-Maßnahmen
Noch bis vor wenigen Jahren hatten Menschenrechtler an dem Ort immer am 29. Oktober zu größeren Aktionen aufgerufen und unter dem Motto "Rückgabe der Namen" traditionell Namen der Opfer vorgelesen. Aktuell sind solche Aktionen verboten - offiziell begründen die russischen Behörden das mit angeblichen Anti-Corona-Maßnahmen. Da es in Russland aber schon lange so gut wie keine Corona-Einschränkungen mehr gibt, werten Kremlkritiker das als reine Schikane in Zeiten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.
"Das ist eine idiotische Absurdität", sagte Menschenrechtler und Kriegsgegner Orlow vor Ort. "Es zeigt, dass das Regime, das sich jetzt wieder in Russland entwickelt hat, ein totalitäres Regime ist, das keinerlei Andersdenken duldet", fügte der 70-Jährige hinzu.
Alternativ organisierte Memorial die Verlesung der Namen an anderen symbolischen Orten in Moskau, etwa an ehemaligen Adressen der Opfer. Auch in Wolgograd, dem früheren Stalingrad, oder in Nowosibirsk gab es Gesten des Gedenkens.
Mit dem Beginn der russischen Offensive in der Ukraine hat der Kreml die Verbreitung seiner Version der Geschichte intensiviert, in der stalinistische Verbrechen beschönigt werden. Memorial bemüht sich seit Jahrzehnten um die Dokumentation dieser Verbrechen. Wenige Wochen vor Beginn der russischen Offensive in der Ukraine hatten die russischen Behörden die Auflösung der Organisation angeordnet.
AR/ust (dpa, afp, rtr)