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PolitikIsrael

Trotz Evakuierungszonen: "Kein Ort ist sicher in Gaza"

7. Dezember 2023

Während Israel die Hamas nun im gesamten Gazastreifen attackiert, wächst die Kritik. Israels Armee betont, dass sie Zivilisten schone. Doch die bisherigen Maßnahmen sind laut UN-Organisationen unzureichend.

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Nach dem israelischen Luftangriff in Khan Junis: Männer, Frauen und Kinder auf der Ladefläche eines LKW vor den Betonskeletten mehrerer Häuser
Die Menschen im Gazastreifen sollen Bereiche räumen, die zu Kampfgebieten werdenBild: Abed Rahim Khatib/Anadolu/picture alliance

Seit dem Ende der Waffenruhe am 1. Dezember haben die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) ihre Bodenoffensive laut eigenen Angaben auf den gesamten Gazastreifen ausgeweitet. Sie bekämpfen die Hamas nun auch im Süden des dichtbesiedelten Gebiets. Also dort, wo Zivilisten nach IDF-Angaben noch vor einigen Wochen Bombardements und Gefechten zwischen israelischen Soldaten und militant-islamistischen Palästinensern entgehen konnten.

Erklärtes Ziel der Bodenoffensive ist es, alle Geiseln zu befreien sowie die Hamas "zu vernichten", die neben Israel auch viele westliche und einige arabische Staaten als Terrororganisation einstufen. Die Hamas hatte am 7. Oktober bei ihrem Terrorangriff auf Israel rund 1200 Menschen ermordet und rund 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Doch mittlerweile häuft sich die internationale Kritik am Vorgehen Israels - und zwar nicht nur aus der arabischen und islamischen Welt.

Guterres: UN-Sicherheitsrat soll "humanitäre Katastrophe verhindern"

Bereits mehrfach hatte der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), Antonio Guterres, die "katastrophale" Situation der Bevölkerung angesprochen. Nun rief er den UN-Sicherheitsrat in einem Brief auf zu handeln: "Ich fordere die Mitglieder des Sicherheitsrats auf, darauf zu drängen, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Ich wiederhole meinen Aufruf, dass ein humanitärer Waffenstillstand ausgerufen werden muss." Dabei berief er sich auf Artikel 99 der UN-Charta. Demnach kann der Generalsekretär den Sicherheitsrat auf Umstände hinweisen, die seiner Meinung nach geeignet sind, "die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden". Zuletzt hatte im Jahr 1989 der damalige UN-Generalsekretär, der Peruaner Javier Perez de Cuellar, Artikel 99 bemüht, um einen Waffenstillstand im Libanon zu erwirken.

Nach Angaben der Hamas-kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza haben bei den israelischen Angriffen, bereits mehr als 17.100 Menschen ihr Leben verloren. Etwa zwei Drittel von ihnen waren demnach Zivilisten. Außerdem befinden sich nach Angaben des Palästinenser-Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) fast 80 Prozent der Bevölkerung innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht.

Blinken: "Humanitäre Zivilschutzpläne umsetzen"

Auch aus der NATO, deren Mitglieder immer wieder Israels Selbstverteidigungsrecht gegen die Hamas betonen, mehren sich die Zweifel an der israelischen Strategie. Vergangenes Wochenende stellte Emmanuel Macron eines der Kriegsziele infrage: "Was bedeutet totale Zerstörung der Hamas, und glaubt jemand, dass das möglich ist?", fragte Frankreichs Präsident am Samstag am Rande der Weltklimakonferenz in Dubai und fordert eine erneute Feuerpause zur Vorbereitung eines dauerhaften Waffenstillstands.

Blinken auf schwieriger Mission in Israel

Selbst aus den USA, Israels engstem Verbündeten, kamen zuletzt mahnende Worte von ranghohen Politikern wie Vize-Präsidentin Kamala Harris und Außenminister Antony Blinken. Am Tag vor Ablauf der Waffenruhe erklärte der US-Chefdiplomat, er habe Israel aufgerufen, vor der Fortsetzung der Bodenoffensive "humanitäre Zivilschutzpläne umzusetzen, die weitere zivile Opfer unter unschuldigen Palästinensern minimieren".

"Evakuierungszonen" sollen helfen, Leben zu retten

Nach eigenem Bekunden ist Israels Armee seit Anfang ihres Angriffs auf die Hamas darauf bedacht, die Zivilbevölkerung zu schonen. Doch in Israel scheint man sich bewusst zu sein, dass mehr erwartet wird. Der IDF-Sprecher Richard Hecht sagte der britischen Zeitung "Financial Times": "Wir brauchen die Zeit, um die Hamas zu besiegen. Wenn wir nicht Sorge tragen, dass wir diese Anstrengungen im humanitären Bereich unternehmen, indem wir die Tode von Zivilisten minimieren, könnten wir unsere Legitimität verlieren." Deshalb werde die Armee in Süd-Gaza anders vorgehen.

Zwei Hände halten ein etwa DIN-A4-großes Blatt mit arabischer Schrift und einem QR-Code
Mit solchen Flugblättern hat die israelische Armee die Menschen im Gazastreifen über die Evakuierungszonen informiertBild: Abed Zagout/Andalou/picture alliance

Anders ist zumindest die Art, Zivilisten vor Gefechten und Bombenangriffen zu warnen. Zum Ende der Waffenruhe am vergangenen Freitag warfen die IDF Flugblätter mit Sicherheitsanweisungen über Gaza ab. Darauf befand sich ein QR-Code, mit dem man per Smartphone auf die Internetseite der Streitkräfte gelangt. Dort ist eine Karte zu finden, die den Gazastreifen zeigt, unterteilt in mehrere hundert Zonen unterschiedlicher Größe. Dabei handle es sich um "erkennbare Bereiche", die es den Bewohnern des Gazastreifens ermöglichten, sich zu orientieren und nach weiteren Hinweisen bestimmte Bereiche zu evakuieren. Seither haben die IDF weitere Informationen gegeben, in welchen dieser Zonen Kampfhandlungen anstünden. Laut der israelischen Tageszeitung "Haaretz" nutzen die IDF dafür Social-Media-Kanäle, verschiedene elektronische Übertragungswege und sogar Telefonanrufe.

Die UNRWA hält die Maßnahmen für ungeeignet, die Zivilbevölkerung von Gaza zu schützen: "Wir sagen es noch einmal. Kein Platz ist sicher in Gaza, weder im Süden noch im Südwesten noch in Rafah oder irgendwelchen einseitig ausgerufenen 'Sicherheitszonen'", erklärte UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini am Montag, drei Tage nach Ende der Waffenruhe. Am Mittwoch twitterte die UNRWA auf X (vormals Twitter), dass die Palästinenser nirgendwohin fliehen könnten, weil auch die Flüchtlingslager überfüllt seien.

Doch auch Dina Matar, Vorsitzende des Zentrums für Palästinastudien an der School of Oriental and African Studies in London, erklärte dem US-Nachrichtenmagazin "Time", warum sie die IDF-Karte für keine praktikable Lösung halte, um Menschenleben zu schützen: "Selbst für jemanden, der jedes einzelne Viertel kennt, ist es schwer, sich auf der Karte zurechtzufinden." Zudem sei es kaum möglich, die Evakuierungszonen rechtzeitig zu verlassen: zum einen, weil die IDF-Aufrufe teilweise gar nicht oder erst spät ankämen; zum anderen, weil die mutmaßlich sicheren Zonen überfüllt und die meisten Menschen zu Fuß unterwegs seien.

"Wir versuchen die Palästinenser rechtzeitig zu informieren, wo Kämpfe stattfinden werden", sagte der IDF-Sprecher Jonathan Conricus dem US-Sender CNN. "Ich weiß nicht, wie wir sonst die Quadratur dieses Kreises bewerkstelligen sollen, die Hamas dort zu besiegen, wo sie ist, und zivile Opfer zu minimieren."

WHO: "Humanitäre Situation verschlechtert sich stündlich"

Klar scheint, dass sich die Situation der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen durch die Ausweitung der Bodenoffensive Israels noch einmal verschärft hat. Lebensmittel, Medikamente und vor allem sauberes Wasser sind knapp - zum Trinken, zum Kochen und zum Waschen.

Nun erwägt Israel nicht dementierten Presseberichten zufolge, das Tunnelsystem der Hamas mit Meerwasser zu fluten, um die Terroristen aus ihren Verstecken zu treiben. Dies, meinen Experten, könnte weiteren Schaden am Wasser- und Abwassersystem in Gaza anrichten, das sich schon vor der aktuellen Eskalation in prekärem Zustand befand. Derzeit sind laut Hilfsorganisationen rund 95 Prozent des verfügbaren Wassers nicht für den menschlichen Gebrauch geeignet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte am Dienstag auf X: "Humanitäre Situation in Gaza verschlechtert sich stündlich."

 

Hinweis: Dieser Text wurde am 8.12. an insgesamt drei Stellen präzisiert. Zum einen wurde die Anzahl der durch die Hamas verschleppten Geiseln korrigiert. Zum anderen wurde eine Angabe zu zivilen Opfern in Gaza auf 17.100 korrigiert. Außerdem wurde eine Passage zum Palästinenser-Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) teilweise verbessert, da Quellenangaben fehlten. 

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.