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Die Ausrottung eines Virus

Martina Merten5. Januar 2016

Vor knapp 30 Jahren steckten sich jedes Jahr 200.000 Kinder in Indien mit Poliomyelitis an. Seit fast zwei Jahren gilt der Subkontinent als frei von Polio, dank eines Impfprogramms, dessen engmaschiges Netz einmalig ist.

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Polio Helferinnen beim Impfen (Foto: Subir Roy)
Bild: Subir Roy

Sachitannands Beine haben den Umfang seiner Unterarme, selbst seine Kniegelenke sind noch breiter. Seine Füße stehen rechtwinklig vom Körper ab. Der 26jährige liegt auf einem einfachen Bett im St. Stephen-Krankenhaus in Delhi. Es ist das einzige Krankenhaus des Subkontinents, das eine eigene Abteilung für die Operation von Polio-Patienten hat. Sachitannand zählt zu den 200.000 Menschen in Indien, die sich Ende der achtziger Jahre jedes Jahr mit Poliomyelitis angesteckt haben. Täglich waren es um die 1000 Kinder weltweit, die die Kinderlähmung traf. Mit etwas Glück wird der junge Mann nach einigen Operationen seine Beine wieder bewegen und seine Knie wieder strecken können. Mit etwas Glück erhält Sachitannand die Chance auf ein normales Leben.

Die Infektionskrankheit greift die muskelsteuernden Nervenzellen des Rückenmarks an und kann dadurch zu bleibenden Lähmungen bis hin zum Tod führen. Weltweit waren noch Ende der achtziger Jahre 350.000 Menschen gelähmt oder starben daran. In den meisten westlichen Industriestaaten konnte die Kinderlähmung bereits Anfang der 60er Jahre unter Kontrolle gebracht werden, so sank die Rate der Neuinfektionen etwa in Deutschland dank der Schluckimpfung um 99 Prozent. Bei letzterer kommen lebende Viren zum Einsatz, in Europa wird seit 1998 nur noch Totimpfstoff verwendet, der gespritzt wird. Bei den Impfkampagnen wie in Indien kommt weiterhin die Schluckimpfung zum Einsatz, weil sie kostengünstiger ist und weniger Schulungsaufwand erfordert.

Polio-Betroffene im St. Stephen Krankenhaus in Delhi (Foto: Anindito Mukherjee)
Patienten in der Polio-Abteilung des St. Stephen-Krankenhauses in Neu DelhiBild: Anindito Mukherjee

Herausforderung Indien

Dass ein Land wie Indien mit 1,25 Milliarden Menschen, mit 27 Millionen neugeborenen Babys jedes Jahr, in dem 23 Millionen Menschen in Tausenden von Zügen täglich Grenzen überschreiten, dass dieses Land es schaffen würde, ein solch gefährliches Virus eines Tages auszurotten, hatte zunächst kaum jemand geglaubt. Jedoch alarmiert durch die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus ausbreitete, beschlossen 1988 die Hilfsorganisation Rotary International und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), das Virus mit vereinten Kräften auszurotten.

Von der Geburtsstunde der "Global Eradication Initiative" von WHO, Rotary International, UNICEF und dem US-Center for Disease Control (CDC) noch im selben Jahr bis zum letzten Polio Fall in Indien vergingen 23 Jahre. Seit 2014 ist der Subkontinent laut WHO-Definition offiziell polio-frei. Nur in Afghanistan und Pakistan wurden in jüngster Zeit noch Neu-Infektionen gemeldet. Insbesondere im indischen Nachbarstatt Pakistan herrscht aufgrund hoher Patientenzahlen noch immer Sorge.

Die größte Herausforderung Indiens war es, alle Kinder zu finden, erzählt Dr. Sunil Bahl, im Regionalbüro der WHO in Delhi für Impfprogramme in Südostasien zuständig. "Jedes Haus und jedes Kind mussten auf unseren Karten dokumentiert sein, damit wir überhaupt mit Impfungen starten konnten."

Infografik DW: Polio weltweit deutsch
Kinderlähmung auf dem Rückzug, aber nicht kontinuierlich

Beispiellose Impf-Kampagne

Im Laufe der letzten 20 Jahre setzte sich eine Impfmaschinerie in Gang, die ihresgleichen sucht. Zweimal jährlich finden seit Mitte der neunziger Jahre nationale Impf-Tage statt. Während dieser Kampagne werden mehr als 170 Millionen Kinder erreicht, mehr als 240 Millionen Häuser aufgesucht und sind rund 2,3 Millionen Impfärzte im Einsatz, berichtet Lokesh Gupta vom National Polio Plus-Ausschuss von Rotary International in Indien.

Darüber hinaus gibt es Gupta zufolge bis zu acht Mal jährlich Impfaktionen auf Ebene der Bundesstaaten, schwerpunktmäßig in den früher am meisten betroffenen Staaten Uttar Pradesh, Bihar und West-Bengal. Während jeder dieser Kampagnen werden rund 35 Millionen Kinder unter fünf Jahren geimpft, 34 Millionen Häuser aufgesucht und an die 100.000 temporäre Impf-Stationen aufgebaut. Rund 10.000 Impfteams sind darüber hinaus an Transitpunkten wie Bahnhöfen, Bushaltestellen, in Bussen, auf Autobahnen und auf Märkten im Einsatz.

Werbung für die Polio-Impfung in Pakistan (Foto: DW/D. Baber)
Werbung für die Polio-Impfung in Pakistan. Von dort droht für Indien latent Gefahr einer erneuten Verbreitung des Virus.Bild: DW/D. Baber

Strategie ständig überarbeitet

Dabei, berichtet Dr. S.K. Pathyarch, musste das Vorgehen vor jeder neuen Impfrunde überarbeitet werden. "Wir mussten die Tausenden von Impf-Helfern und Koordinatoren jedes Mal neu schulen", berichtet der WHO Mitarbeiter, der in Uttar Pradesh für die Überwachung des Polio-Projekts zuständig ist. Zudem markieren erst seit 1999 Helfer die Finger der Kinder als Zeichen für deren Impfstatus, erklärt Bahl. Seit 2005 gibt es eine Spezialstrategie für die 4,2 Millionen Kinder in Indien, die keinen festen Wohnsitz haben und ständig unterwegs sind. Erst seit einigen Jahren werden bei den Haus-zu-Haus- Impfungen im Rahmen der Impf-Tage Häuser mit einem Kreidestift markiert, in denen keiner anzutreffen war und die erneut aufzusuchen sind.

Eine der größten Herausforderungen war die skeptische Haltung von Muslimen gegenüber der Polio-Impfung, berichtet Maulana Khalid Rashid Farangi Mahli, Oberhaupt der islamischen Gemeinschaft in Uttar Pradeshs Hauptstadt Lucknow. Die Liste der Vorurteile unter den Muslimen war lang, deren Ängste groß. Die größte Sorge: ihre Kinder könnten durch die Impfung impotent werden. Das Engagement von lokalen Rotary Mitgliedern führte zur Gründung eines "Rotary Muslim Ulama Committee". Den Durchbruch brachte die Impfung von Mahlis eigenem Sohnes gegen das Polio-Virus vor laufenden Kameras vor neun Jahren. Innerhalb weniger Jahre, so Mahli, seien die Polio-Erkrankungen bei Muslimen auf null gesunken.

Eines ist den vielen Helfern und Mitarbeitern der engagierten Organisationen allerdings bewusst: "Es gibt immer die Möglichkeit, dass das Virus zu uns zurückkehrt", so bringt es Pathyarch auf den Punkt. Es reiche ein Kind, das sich an der Grenze zu Pakistan ansteckt und das durch das Raster fällt.