37. Behinderung darf kein Kriterium bei Triage sein
5. Januar 2022Jingle: DW. "Echt behindert!"
Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.
Im Sommer 2020 war Corona noch recht neu. Damals haben neun chronisch kranke und behinderte Menschen das Bundesverfassungsgericht angerufen, weil sie befürchteten, im Fall einer Triage wegen ihrer Behinderung nicht behandelt zu werden.
Am 28. Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht jetzt eine Entscheidung getroffen. Heute in "Echt behindert!" spreche ich mit dem Anwalt, der die Klage damals eingereicht hat. Wir sprechen darüber, was das Urteil bedeutet, wie es jetzt weitergeht, aber auch über andere Themen, die er in seiner Rechtsanwaltskanzlei betreut. Herzlich willkommen von der Kanzlei "Menschen und Rechte" Prof. Dr. Oliver Tolmein aus Hamburg.
Oliver Tolmein: Hallo! Schönen Tag!
Matthias Klaus: Schönen guten Morgen. Eine Verfassungsbeschwerde, eine Klage: Was haben Sie da genau eingereicht beim Bundesverfassungsgericht?
Oliver Tolmein: Das war eine Verfassungsbeschwerde. Und zwar der seltene Fall, in dem man sich nicht über etwas beschwert, was getan worden ist und wo jemand die Rechte von Menschen mit Behinderung verletzt hat, sondern indem wir eine Unterlassung beklagt haben. Der Gesetzgeber hat nämlich etwas, was unseres Erachtens hätte getan werden müssen, nicht getan. Er hat eine Schutzvorschrift, ein Gesetz nicht erlassen, das eine drohende Triage so regelt, dass Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden. Sondern er hat die Auffassung vertreten, dass das, wenn knappe Ressourcen da sind, eine Sache ist, die die Ärzte schon irgendwie managen werden und damit eine spezifisch medizinische Aufgabe.
Das haben wir anders gesehen. Wir haben gesagt: Das ist natürlich etwas, was auf der Intensivstation oder am Krankenbett oder im Krankenhaus stattfindet. Aber es ist, wenn es um die Verteilung von zu knappen Ressourcen geht, eine gesellschaftliche Frage: Nach welchen Kriterien soll entschieden werden, wer diese knappen Ressourcen erhält? Und eine solche gesellschaftliche Frage kann eigentlich niemand anderes regeln als der Gesetzgeber.
Das sah der Gesetzgeber zwar anders, aber das Bundesverfassungsgericht ist uns in dieser Frage erfreulicherweise gefolgt. Und ja, so kamen wir dazu.
Matthias Klaus: Wir führen dieses Gespräch am 29.12.21, also einen Tag nachdem die Entscheidung getroffen worden ist, dass sich der Bundestag mit dem Thema beschäftigen muss. Wie ging das damals los? Wer kam auf Sie zu? Wer hat diese Sache angestoßen vor anderthalb Jahren?
Oliver Tolmein: Das waren Menschen mit Behinderungen aus der Gruppe oder aus dem Zusammenhang der Organisation AbilityWatch, die mich angesprochen hatten. Die meisten davon waren aus anderen Gründen in sozialrechtlichen Verfahren Mandantinnen von mir gewesen. Und die sagten, dass sie diese ganze Entwicklung in Zusammenhang mit Corona beunruhigen würde, dass man vielleicht versuchen könnte, da irgendeine Verfassungsbeschwerde zu machen, dass wenn es so was gäbe wie eine Triage, dass man da dann tätig werden könnte.
Das haben wir dann besprochen. Bei der Gruppe AbilityWatch war auch eine Juristin, eine Richterin dabei, sodass es da also auch neben dem allgemein behindertenpolitischen Austausch einen spezifisch rechtlichen Austausch gab.
Wir sind natürlich in meiner Kanzlei auch mit Kolleg/innen zusammen, mit denen wir das geklärt haben. Und ich habe eine ganze Reihe Kontakte mit Juristen und Juristinnen mit Behinderung. Und so ist dann die Idee entstanden, diese Verfassungsbeschwerde zu machen. Daran habe ich dann einige Wochen lang gesessen. Und dann haben wir die Verfassungsbeschwerde anschließend abgestimmt und beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.
Matthias Klaus: Nur ist die dann erstmal sozusagen zurückgewiesen worden oder auf Pause gestellt worden mit der Begründung, man brauche mehr Information, man müsse sich erst mal ernsthaft damit beschäftigen. Es war ja damals schon so ein bisschen, dass es eine gewisse Eile hatte. Es hätte ja sein können, dass diese Triage irgendwann bald kommt. Das ist ja jetzt vielleicht auch eventuell mal wieder so. Wie ging das dann weiter? Zunächst wurde gesagt: "Ja, wir müssen uns da ernsthaft mit beschäftigen, das kann dauern." Was macht man denn dann?
Oliver Tolmein: Also es war so, dass wir eine Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten in Zusammenhang mit einem "Eilantrag." Der Eilantrag beinhaltete, dass eine spezifische Aufforderung an die Bundesregierung ergeht, ein Gremium zu schaffen, in dem Menschen mit Behinderungen repräsentiert sind. Dieses solle Sofortmaßnahmen besprechen und versuchen zu beschließen. Da hat das Bundesverfassungsgericht, das war dann im Sommer 2020, als die Lage sich bereits nach der ersten Welle wieder entspannt hatte, gesagt: "Na ja, also so ein Sofort-Gremium zu schaffen, das ist vielleicht jetzt etwas viel verlangt im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde, die die Untätigkeit des Gesetzgebers angreift."
Es geht ja um die Frage, ob so etwas überhaupt zulässig sein kann und ob es überhaupt möglich ist, den Gesetzgeber zu einem Handeln zu zwingen, und das dann auch noch gleich und im Eilverfahren zu machen. Das geht zu weit.
Aber in diesem Eilbeschluss hatte das Bundesverfassungsgericht schon eine entscheidende Weiche gestellt. Es hat nämlich gesagt: Im Kern geht es hier um die Reichweite des Benachteiligungsverbots für Menschen mit Behinderungen. Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes, der 1994 in die Verfassung eingefügt worden ist. Und das müssen wir sehr gründlich überlegen, wie weit diese Schutzpflichten, die daraus für den Gesetzgeber gegenüber Menschen mit Behinderungen erwachsen, tatsächlich reichen.
Und das Bundesverfassungsgericht hat es gesagt! Das war mindestens genauso wichtig, dass die Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein unzulässig ist. Und das war ein ganz wichtiges Signal. Denn in der Regel sind gerade diese Verfassungsbeschwerden, die auf Untätigkeit des Gesetzgebers zielen, unzulässig. Das ist die größte Hürde, die man da am Anfang nehmen muss.
Eine unzulässige Verfassungsbeschwerde ist meistens deswegen oder in diesen Fällen oft deswegen unzulässig, weil man sagt: "Na ja, also Euch als Beschwerdeführer und Beschwerdeführerin betrifft das eigentlich gar nicht". Und wir haben hier ja ein Rechtssystem, in dem sich Menschen mit sogenannten Popular-Klagen, also Klagen aus allgemeinen Erwägungen, weil sie irgendwas falsch finden, nicht an die Gerichtsbarkeit wenden können.
Das war die Situation im Sommer 2020. Dann hat das Bundesverfassungsgericht eine ganze Reihe von Organisationen und Institutionen angeschrieben: die Länderregierungen, die Bundesregierung, den Bundestag, Behindertenverbände, das Institut für Menschenrechte und hat aber auch Ärzteverbände und Ärzteorganisationen gefragt: "Was haltet ihr eigentlich von dieser Verfassungsbeschwerde?" Und da sind dann eine ganze Reihe von Stellungnahmen zusammengekommen.
Bemerkenswerterweise war die einzige Organisation/Institution, die das nicht selber gemacht hat, sondern an eine Anwaltskanzlei herausgegeben hat, das damalige Bundesgesundheitsministerium gewesen. Und dann haben diese ganzen Stellungnahmen zum Teil eben ergeben, dass man ein Gesetz möchte.
Die Bundesärztekammer hat gesagt: "Wir möchten eher kein Gesetz." Die Behindertenverbände haben eigentlich ziemlich einhellig gesagt: "Da muss was sein, da muss was kommen! Wir teilen die Sorgen dieser Verfassungsbeschwerde!" Und dann hat sich das Bundesverfassungsgericht seine Gedanken gemacht und hat dann jetzt eben am 16. Dezember entschieden und am 28. Dezember diese Entscheidung veröffentlicht.
Matthias Klaus: Was bedeutet diese Entscheidung jetzt? Was muss jetzt geschehen als nächstes?
Oliver Tolmein: Der Gesetzgeber ist gehalten (das hat das Bundesverfassungsgericht verlangt), unverzüglich Vorsorge zu ergreifen, Maßnahmen zu ergreifen, die verhindern, dass im Fall einer Triage Menschen mit Behinderungen wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden.
Das ist sozusagen der Auftrag. Es ist also nicht so wie wir uns das gedacht hatten. Wir hatten gesagt: "Wir wollen ein Gesetz." Da hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: "Nein, der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten. Da ist er frei zu entscheiden, welche Maßnahmen er ergreift. Er könnte auch eine Verordnung machen. Er könnte auch versuchen, ganz andere Maßnahmen zu ergreifen. Das obliegt sozusagen seiner Entscheidungsgewalt. Er muss aber etwas tun."
Und dann hat das Bundesverfassungsgericht noch ein bisschen ausgeführt, in welchem rechtlichen Rahmen das zu geschehen hat. Es hat dabei auf Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention verwiesen, der sich damit beschäftigt, welchen Mindeststandards die Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung zu genügen hat.
Es hat auf den Artikel 3, Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz verwiesen (das Benachteiligungsverbot). Es hat anhand der Richtlinien der DIVI, also der [intensivmedizinischen-] Organisation, die jetzt private fachärztliche Leitlinien über die Zuteilung von knappen Ressourcen erlassen hat, gezeigt, welche Regelungen dort bedenklich sind und was da geändert werden müsste.
So, und jetzt haben wir eine Situation, wo man schauen muss: "Wie wird das umgesetzt?" Die ersten Reaktionen, die wir bekommen haben, sind einerseits positiv. Das Bundesjustizministerium hat gesagt, es will jetzt bald einen Gesetzentwurf vorstellen. Das Bundesgesundheitsministerium hat gesagt: "Das ist ein berechtigtes Anliegen, was die Menschen mit Behinderung haben."
Etwas irritierender sind die Reaktionen aus der Ärzteschaft. Die DIVI beispielsweise hat gesagt: "Na ja, wieso? Das machen wir doch alles, was das Bundesverfassungsgericht sagt." Das kann man aber so nicht sagen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat ja recht deutlich gesagt, was problematisch ist und was bedenklich ist. Und die Vorstellung, dass jetzt sozusagen nur noch Kleinigkeiten geändert werden müssen, die ist sicherlich falsch. Sonst hätten wir weder eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, noch hätte das Bundesverfassungsgericht, wenn es hier um Kleinigkeiten ginge, die Entscheidung gefällt, die es gefällt hat.
Das heißt, in der Ärzteschaft muss man da, glaube ich, noch tatsächlich ein bisschen nachbessern, arbeiten und Klärungsarbeit leisten. Und auch die Frage, wie das Justizministerium jetzt dieses Gesetz macht, ist jedenfalls nicht ganz unproblematisch. Denn nach unserer Sichtweise ist es ganz wichtig, dass jetzt die Verfassungsbeschwerdeführer, Organisationen und Gruppen von Menschen mit Behinderung in die Gesetzgebungsarbeit einbezogen werden.
Die UN-Behindertenrechtskonvention verlangt, dass bei Fragen, die Menschen mit Behinderung betreffen, Menschen mit Behinderungen partizipieren müssen, teilhaben müssen. Die müssen aktiv mitreden können. Denn es hat sich ja gezeigt, dass der Gesetzgeber bisher bis zu dieser Verfassungsbeschwerde dieses Problem nicht erkannt hat.
Auch die Ampel-Koalition hat in ihren Koalitionsvereinbarungen nicht gesagt: "Die Triage müssen wir jetzt regeln, anders als die vorherige Bundesregierung", sondern sie hat sich dazu überhaupt nicht verhalten. Zu anderen Sachen im Zusammenhang mit der Pandemie hat sie sich verhalten. Das heißt also: Die Bereitschaft, jetzt etwas zu tun, ist groß. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Signal, dass man hier nicht nur über Menschen mit Behinderungen entscheiden muss, sondern dass man sie an der Entscheidung teilhaben lassen muss, dass man sie einbeziehen muss, dass man auf sie hören muss, dass sie mitreden können müssen, ob das tatsächlich in der Deutlichkeit angekommen ist, wie das von Seiten des Bundesverfassungsgerichtes meines Erachtens ausgesandt worden ist.
Jingle: Musik
Matthias Klaus: Noch einen kleinen Schritt zurück. Was wäre denn geschehen, ohne das jetzt so? Das Eine ist vielleicht, dass eher eine Ermahnung des Bundesverfassungsgerichtes hier auf dem Tisch liegt. Was wäre nach den Regeln, die sich die Ärzte selber gegeben haben, damals geschehen? Wie wären Behinderte denn hier diskriminiert worden?
Oliver Tolmein: Ganz genau kann man das natürlich gar nicht sagen, weil es keine verbindlichen Richtlinien gibt. Die Ärzteschaft kann ja zwar fachlich wissenschaftliche Richtlinien erlassen, aber die sind erst mal nicht verbindlich. In unserem konkreten Fall bei der Zuteilung zu knapper Ressourcen hat eine Vereinigung von Intensivmediziner/innen und Notärzt/innen eine Richtlinie gemacht, eine sogenannte "F1 Richtlinie", nach welchen Kriterien das geschehen muss. Da steht auch sogar drin: "Menschen mit Behinderung und Menschen wegen ihres Alters sollen nicht benachteiligt werden."
Aber dann kommen Kriterien, anhand derer entschieden werden soll, wer denn die zu knappen Ressourcen bekommt. Und da sollen eben Menschen, die sogenannte Komorbidität, also Vorerkrankungen oder andere Erkrankungen zusätzlich zu Corona haben, aber auch Menschen, die nach einer bestimmten klinischen Skala, der Gebrechlichkeitsskala, einen schlechten Allgemeinzustand haben, die Ressourcen nachrangig erhalten.
Also beispielsweise jemand, der im Rollstuhl sitzt, der wird dort als ein Mensch gesehen, der in einem schlechten Allgemeinzustand ist, weil er nicht gehen kann oder sie nicht gehen kann. Die würden dann die Ressourcen deswegen nachrangig erhalten. Und das ist das, wogegen sich das Bundesverfassungsgericht wendet und wogegen wir uns auch wenden. Denn das hätte bei den neun Beschwerdeführern, die die Verfassungsbeschwerde eingereicht haben, zur Folge, dass wenn sie in die Intensivstation hätten gebracht werden müssen, um dort beatmet zu werden und behandelt zu werden, man gesagt hätte, wenn die Plätze zu knapp gewesen wären: "Tja, jetzt nehmen wir doch erst mal alle die, die laufen können und die, die keine neurologischen Erkrankungen haben. Und dann, wenn wir dann noch Plätze haben, dann kommt ihr dran."
Das wäre die Benachteiligung gewesen. Und die hätte für jeden einzelnen dieser Patienten natürlich ganz klar bedeutet, dass sie sterben werden. Wenn wir einen Beatmungsfall haben und wir haben keine Beatmungskapazitäten und wir sagen diesen Patienten: "Wir können dich jetzt nicht behandeln", dann wird der nicht überleben. Dann wird der letzten Endes ersticken. Das kann man zwar noch palliativ behandeln, damit das kein ganz so grässlicher Vorgang ist, aber tödlich ist er allemal.
Und durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist jetzt meines Erachtens gesagt worden: Nach einer solchen typisierten Skala wie der Gebrechlichkeitsskala oder nach typisierten Komorbiditäten können keine Entscheidungen getroffen werden. Es müssen andere Maßstäbe gefunden werden. Und das wäre jetzt eben die Arbeit des Gesetzgebers, da zu überlegen: "Was können diese Maßstäbe sein und wie kann man da den individuellen Patienten gerecht werden?"
Die Schwierigkeit, die sich dabei ergibt, ist, dass (je nachdem, wie viele Fälle von so einer Triage möglicherweise im schlimmsten Fall erfasst werden) man da kaum zu Kriterien kommen wird, wo man sagen kann: "Die sind ganz einfach anzuwenden."
Da werden dann möglicherweise eben so Fragen eine Rolle spielen wie: "First come - first serve," also wer zuerst da ist, der bekommt halt die Behandlung und dann muss man regeln: Kann man die ihm wieder wegnehmen, wenn ein anderer Patient kommt, von dem Ärzte sagen: Der hat aber vielleicht bessere Aussichten?
Und da muss meines Erachtens der Gesetzgeber ganz klar regeln, dass das nicht geht. In dem Moment, wo ein Patient eine Behandlung bekommt und die noch aussichtsreich ist, kann man die eben nicht wieder wegnehmen. Das sehen aber zum Beispiel die Richtlinien der DIVI anders. Deswegen ist da durchaus einiges an Arbeit und einiges auch an ethischen Konflikten zu lösen.
Matthias Klaus: Das ist ja ein großes Thema und sie haben sich jetzt lange damit beschäftigt. Aber Sie machen ja auch andere Sachen. Vielleicht haben Sie noch ein paar Minuten Zeit, dass wir über die anderen Dinge, die Behindertenrechte angehen, sprechen. Zum Beispiel ging es da um das Sorgerecht behinderter Eltern. Also so eine Frage: Wenn Eltern behindert sind, wie sie sich um ihre Kinder kümmern? Was sie da dürfen? Was sie nicht dürfen? Wann sie ihre Sorgerechte abgenommen bekommen? Wo ist da das Problem? Und wer kam da zu Ihnen? Das ist ja schon ein bisschen her, soweit ich weiß...
Oliver Tolmein: Wir haben diese Fragestellung immer mal wieder. Das bearbeitet bei uns in der Kanzlei noch mehr meine Kollegin Gabriela Lünsmann, die eine ausgebildete Familienrechtsanwältin ist. Aber das Problem, das wir dort haben, ist das häufig die Jugendämter den Eltern nicht zutrauen, dass sie ihre Kinder aufziehen und großziehen können. Das ist besonders der Fall, wenn wir jetzt zwei Eltern mit Behinderung haben, oder wenn wir einen Ehepartner oder eine Ehepartnerin haben, die behindert ist und der andere Ehepartner ist nicht behindert und die trennen sich dann.
Dann ist die Gefahr sehr groß, dass wegen der Behinderung das Sorgerecht auf den nicht behinderten Elternteil übergeht. Und da versuchen wir dann, die Rechte der Eltern oder Elternteile mit Behinderungen zu wahren, deutlich zu machen, dass es da beispielsweise so was gibt im Sozialrecht, im SGB IX wie die sogenannte "Eltern-Assistenz", also eine Assistenz-Unterstützung, die Eltern hilft, bestimmte physische Hilfeleistungen zu erbringen. Oder wenn es gehörlose Eltern sind, über Gebärdensprachdolmetscher, dann zum Beispiel mit Menschen, die keine Gebärdensprache beherrschen, kommunizieren zu können.
Das heißt, da versuchen wir also, mit sozialrechtlichen und antidiskriminierungsrechtlichen Mitteln die Ansprüche und die Interessen von Eltern mit Behinderungen und Elternteilen mit Behinderungen wahrzunehmen und durchzusetzen. Dass die, so wie andere Eltern auch, eben ihre Elternposition haben und sich um ihre Kinder sorgen und ihre Kinder erziehen können.
Matthias Klaus: Das sind jetzt aber eher Alltagsfälle, da sind die Gesetze eigentlich schon so weit okay?
Oliver Tolmein: Genau.
Matthias Klaus: Und es ging immer darum, die Rechte einfach auch durchzusetzen. In dem Fall.
Oliver Tolmein: Genau! Das ist ja an vielen Punkten so. Wir haben gar nicht so schlechte gesetzliche Regelungen. Manchmal sind sie ein bisschen unausgereift oder noch nicht weit genug entwickelt. Das Problem ist häufig die Anwendung dieser Regelung. Was wir gerne machen und was ein Spezialgebiet von mir ist: vorhandene gesetzliche Regelungen so zu interpretieren und durch den Kontext mit grundrechtlichen Regelungen und Benachteiligungsverboten so einzusetzen, dass sie möglichst viel Selbstbestimmungsrechte und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen darstellen oder einfach einen anderen Blick darauf haben. Meine Mandantinnen und Mandanten sind eben für mich nicht Leute, denen man fürsorglich helfen muss, sondern das sind Partnerinnen und Partner, die Rechtsansprüche haben, die ihnen häufig ungerechtfertigt verweigert werden.
Dann muss ich nicht nett und sozial und lieb zu den Menschen mit Behinderung sein und sagen auch: "Ihr dürft auch mal." Sondern dann geht es darum, dass wir sagen: "Halt, wir haben hier Forderungen, die sind berechtigt und diese Rechte müssen umgesetzt werden!"
Das ist eine ganz andere Sichtweise. Das ist aber ein ganz wichtiger Punkt in der Auseinandersetzung um Rechte von Menschen mit Behinderung, dass man dieses Selbstbestimmungsrecht artikuliert und dass man sich nicht damit zufrieden gibt und dankbar dasteht, wenn man ein paar Brosamen hingeworfen bekommt.
Jingle: Musik
Matthias Klaus: Wie ist es mit dem barrierefreien Rechtsverkehr? Habe ich ein Recht auf barrierefreie Kommunikation, wenn ich zum Anwalt gehe, wenn ich zum Gericht gehe, wenn ich ein Schreiben kriege? Ich krieg immer noch Papier-Briefe!
Oliver Tolmein: Ja, sie haben ein Recht auf barrierefreie Kommunikation und sie werden wahrscheinlich, auch wenn man da nicht mehr dafür tut, weiterhin Papier Briefe bekommen und nicht Briefe in Brailleschrift...
Matthias Klaus: Computer-lesbar, würde mir schon reichen.
Oliver Tolmein: ...und gut lesbar wäre schön! Genau! Ja, das muss eingefordert werden. Und es gibt da auch eine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) zum Beispiel. Der sagt: "Na ja, wenn Sie ein blinder Mandant von einem Rechtsanwalt sind, dann brauchen Sie das jetzt gar nicht mehr in einer eigens für Sie selbst zugänglichen Form zu bekommen. Dann reicht es aber, wenn der Anwalt Ihnen das erklärt."
Das ist aber eine falsche Sichtweise. Und da muss sich dann Ihr Anwalt auch dagegen wehren oder Ihre Anwältin und muss sagen: "Nee, nee, nee, nee, nee! Das ist nicht mein Job! Die Justiz muss zugänglich sein!"
Ich muss als Anwalt auch eine zugängliche Kanzlei haben. Wir bemühen uns darum, zum Beispiel unsere Webseite zugänglich zu haben. Wir bemühen uns natürlich schon, mit unseren Mandantinnen und Mandanten entsprechend ihren Kommunikationsbedürfnissen zu kommunizieren. Aber jetzt ein Gerichtsurteil barrierefrei zu machen, das ist nicht unser Job, das ist der Job des Gerichtes.
Und so muss man an diesen Punkten immer wieder in Auseinandersetzung treten. Beispielsweise vertrete ich sehr viele gehörlose Mandate und da ist es dann so, dass man sagt: "Na ja, also Gebärdensprachdolmetscher bei einer Gerichtsverhandlung braucht man eigentlich nur, wenn die Mandanten auch geladen werden vom Gericht, dass sie da sein müssen."
Ich sage: "Nee, die brauchen immer jemanden, denn jeder normale, jeder hörende Mandant kann zu einer Gerichtsverhandlung gehen und kann die verstehen, kann zuhören, kann sehen, was dort ist. Wenn er oder sie das nicht kann, dann muss das Gericht was dafür tun, dass diese Wahrnehmungsschranke, dass diese Barriere überwunden wird."
Und da kann man nicht sagen: "Ja, dann bleib doch zu Hause. Dein Anwalt erzählt dir schon was gewesen ist", sondern dann muss man sagen: "Das Gericht muss halt, wenn es selber nicht in Gebärdensprache kommunizieren kann, einen Gebärdensprachdolmetscher oder eine Gebärdensprachdolmetscherin bereithalten."
Wenn man das einfordert, kann man das in der Regel auch durchsetzen. Man muss es halt viel mehr einfordern, damit so eine barrierefreie Kommunikation einfach ein gewohnheitsmäßiges, ein Standard wird, bei dem die Gerichte gar nicht mehr auf die Idee kommen, dass sie den nicht wahren müssten.
Matthias Klaus: Sie beschäftigen sich auch mit, ich nenne es mal "Kleinkram". Also auch so was wie: Jemand wird nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, weil er oder sie eine Behinderung hat, obwohl der Arbeitgeber das von Gesetzes wegen müsste. Was können Sie denn da tun, wenn Sie so eine Klage durchführen? Kommt da überhaupt etwas bei raus? Wenn ich mir vorstelle, ich verklage meinen Arbeitgeber erstmal, bevor ich da angefangen habe zu arbeiten, dann hasst er mich doch wie die Pest bis zum Rest des Lebens.
Oliver Tolmein: Das muss nicht sein. Wenn es ein souveräner Arbeitgeber und souveräne Arbeitgeberin ist, dann sagt sie vielleicht auch: "Ja, da habe ich einen Fehler gemacht. Fehler macht man, mache ich nicht noch mal!"
Und ich stelle fest: "Wow, ich habe ja super Beschäftigte, die Behinderungen haben. Gut, dass ich die habe." Also das muss nicht sein. Ich glaube, man darf Rechte wahrnehmen, ohne befürchten zu müssen, dass man deswegen gehasst wird. Was man erreichen kann ist aber eben bedauerlicherweise im Arbeitsrecht nicht, dass wir sozusagen "auf Einstellung klagen können."
Das ist ein bisschen anders im öffentlichen Dienst, aber grundsätzlich können wir das eben leider nicht, sondern was wir erreichen können sind Schadensersatzzahlungen. Das sind dann ein, zwei Monatsgehälter. Das ist nicht besonders viel, es ist aber auch nicht Nichts.
Das bringt aber häufig die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber dazu, nachzudenken und das nächste Mal vielleicht, wenn es gut läuft, zu überlegen, ob sie wirklich wieder die Rechte von Bewerberinnen und Bewerbern mit Behinderungen verletzen wollen.
Matthias Klaus: Aber solche Fälle haben sie immer mal wieder.
Oliver Tolmein: Solche Fälle haben wir immer mal wieder auch da. Ich bin da nicht alleine in der Kanzlei. Ich habe eine Kollegin Babette Tondorf, die Macht im Wesentlichen die arbeitsrechtlichen Geschichten. Die vertritt auch sehr viele schwerbehinderten Vertrauensleute in der Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern.
Das heißt, wir haben schon so ein bisschen eine Arbeitsteilung bei uns in der Kanzlei - auch weil Rechte von Menschen mit Behinderung ja in fast allen Rechtsgebieten auftauchen. Wir haben gelernt, dass Spezialisierung ein ganz wichtiger Punkt ist. Ich bin für die Medizinrechtlichen Fragen und für die ganz generalistischen verfassungsrechtlichen Fragen zuständig. Sozialrecht machen andere bei uns, dann andere erbrechtliche, familienrechtliche, arbeitsrechtliche, strafrechtliche Fragen. Das ist so ein bisschen gemischt.
Matthias Klaus: Aber Sie hatten auch mit der Bahn zu tun, soweit ich mich erinnere...
Oliver Tolmein: Ja. Ja.
Matthias Klaus: Ich hatte mal eine Folge mit Kay Macquarrie, wo wir über die Bahn gesprochen haben. Und ich glaube, ihre Kanzlei hatte da ein Gutachten gemacht. Was war das?
Oliver Tolmein: Genau.
Matthias Klaus: Und wie ging es damit jetzt weiter? Wir müssten ja in drei Tagen eigentlich eine barrierefreie Bahn haben.
Oliver Tolmein: Das wäre schön. Das Gutachten, das ich gemacht habe, habe ich für die Schlichtungsstelle beim Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen gemacht.
Dabei war der Arbeitsauftrag zu überprüfen, inwieweit das Bundesverkehrsministerium verpflichtet ist, bei der Bahn darauf hinzuwirken, dass sie einen konkreten, umsetzbaren und auch absehbaren Plan hat, bis wann insbesondere der Fernverkehr (der Personenfernverkehr) barrierefrei ist.
Ich bin im Rahmen dieses Gutachtens dazu gekommen, dass es da eine Verpflichtung des Bundesverkehrsministeriums gibt und dass bis zu dem Zeitpunkt, ab dem die Barrierefreiheit dann gewährleistet ist, die Bahn (also das Verkehrsministerium bei der Bahn) sogenannte "angemessene Vorkehrungen" durchführen muss.
Konkret geht es darum beispielsweise, dass dann über diese berühmten Hublifte Rollstuhlfahrerinnen und Fahrer in die Bahn befördert werden müssen, aber nicht nur zu wenigen Stunden am Tag, sondern während des gesamten Betriebsablaufs, den die Bahn so hat und an allen Bahnhöfen und nicht nur an ausgewählten Bahnhöfen.
Dieses Schlichtungsverfahren, das damals die Initiative "Selbstbestimmt Leben" gemacht hat, hat auch mit einem Schlichterspruch geendet, der im Sinne meines Gutachtens war. Aber das Bundesverkehrsministerium, das damals ja noch einen anderen Bundesverkehrsminister hatte, hat sich entschieden, diesen Schlichterspruch nicht anzunehmen.
Und da wird es eine Klage, nehme ich an, gegen das Bundesverkehrsministerium und die Bundesregierung geben. Die wird darauf hinauslaufen, dann vor ordentlichen Gerichten (so ein bisschen wie bei der Verfassungsbeschwerde, aber eben vor regulären Gerichten, der sogenannten ordentlichen Gerichtsbarkeit), durchzusetzen, dass das Verkehrsministerium gezwungen wird, da aktiver zu werden.
Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Bei mir im Podcast war Professor Dr. Oliver Tolmein von der Kanzlei Menschen und Rechte in Hamburg, einer der Anwälte, die sich in Deutschland mit Behindertenrechtsthemen beschäftigen.
Herr Tolmein, ich danke Ihnen recht herzlich, dass Sie Zeit hatten, meine Fragen zu beantworten und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit.
Oliver Tolmein: Ganz herzlichen Dank und vielen Dank für das Interview für die Möglichkeit, dass man dieses Thema mal auch ein bisschen erläutern kann.
Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias Klaus.
Jingle: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.
Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.