Trauermärsche - Markenzeichen der AfD?
1. September 2018Kandel, Mainz, Freiburg und jetzt Chemnitz: In diesen vier deutschen Städten verübten Asylbewerber grausame Verbrechen. Doch die Trauer mit den Angehörigen der Opfer fand meistens jenseits der medialen Aufmerksamkeit statt. Und oft auch jenseits der Kirchen.
"Ich hätte mir gewünscht, dass in Chemnitz die Kirchen das Thema Trauer übernommen hätten", sagt der Theologe Wolfgang Thielmann, Autor des Buches "Alternative für Christen? Die AfD und ihr gespaltenes Verhältnis zur Religion". "Die Kirchen hätten ein Zeichen setzen können, nämlich: Wir lassen nicht zu, dass Trauer für Hass missbraucht wird."
Doch die Rechtspopulisten waren schneller. Weiße Rosen und schwarze Anzüge, geballte Fäuste und Deutschlandfahnen: Dem Aufruf von AfD, Pegida und "Pro Chemnitz" zu einem Trauermarsch am Samstag in Chemnitz folgten Tausende von Anhängern.
Politische Trauer, zorniger Zeitgeist
Die Rechtspopulisten verfügen mittlerweile über reichlich Erfahrung in der Organisation von Trauermärschen. In Kandel zum Beispiel marschieren sie regelmäßig auf, um an den Tod einer 15-jährigen Schülerin zu erinnern, die im Dezember 2017 von ihrem Ex-Freund, einem Flüchtling, niedergestochen wurde.
Die Familie des verstorbenen Mädchens fühlte sich durch die Trauermärsche der Bewegung "Kandel ist überall" nicht getröstet. Genauso wenig wie die Eltern der 19-jährigen Studentin aus Freiburg, die im Oktober 2016 von einem afghanischen Asylbewerber ermordet wurde. Oder jetzt die Angehörigen des 35-jährigen Deutsch-Kubaners Daniel Hillig aus Dresden.
Auch die Botschaften der AfD-Trauermärsche unterscheiden sich von den traditionellen Trauerumzügen, bei denen verstorbene Politiker oder anderen Persönlichkeiten ein letztes Geleit mit militärischen Ehren und Musik zuteil wird.
In Chemnitz und Kandel kommen die Teilnehmer der Trauermärsche ohne kirchliche und geistliche Würdenträger aus, ohne Friedenswünsche, Predigten und Innehalten. Dafür werden bei den Kundgebungen flammende Reden gegen Flüchtlinge, gegen den Islam oder die Kanzlerin gehalten.
"Bei Trauer tritt der Staat zurück"
Dabei ist das Bedürfnis, Katastrophen zu verarbeiten, in der gesamten Gesellschaft groß. "Nach schlimmen Unglücken stehen Gottesdienste im Fokus einer breiten Öffentlichkeit", erklärte Brigitte Benz, Wissenschaftlerin am theologischen Forschungskolleg der Universität Erfurt, bereits 2015 gegenüber der ZEIT-Beilage "Christ & Welt".
Zu diesem Zeitpunkt war ihre liturgiewissenschaftliche Studie "Trauer und Gedenkfeiern nach Großkatastrophen in säkularer Gesellschaft unter kirchlicher Beteiligung" erschienen. Einer ihrer Befunde: "Die größten Gottesdienste, die in Deutschland stattfanden, waren in letzter Zeit nicht Weihnachts- oder Ostergottesdienste, sondern Trauergottesdienste. Sie dienen dazu, Katastrophen zu verarbeiten."
Autor Wolfgang Thielmann bestätigt dies. "Bei großer Freude und großer Trauer tritt in Deutschland der Staat zurück - und die Kirchen springen ein." Der Amoklauf in Erfurt 2002 habe gezeigt, dass dies auch in den neuen Bundesländern der Fall sei, wo weniger Menschen einer Kirche angehörten. Bei dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium wurden 16 Menschen erschossen. Zu der Trauerfeier im Erfurter Dom kamen über 100.000 Menschen. Der Gottesdienst gilt als die größte Trauerfeier in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Trauern um "Charlie Hebdo"
Ein Beispiel für den politischen Missbrauch von Trauerfeiern, das den Grünen-Politiker Cem Özdemir bis heute aufregt, war der Trauermarsch der Pegida-Bewegung in Dresden nach dem Anschlag auf das französische Satire-Magazin "Charlie Hebdo" im Januar 2015 in Paris.
In einem Fernsehinterview erklärte Özdemir damals: "Dass ausgerechnet die Bewegung, die bei ihren Veranstaltungen regelmäßig über die Lügenpresse redet, jetzt die Karikaturisten von Charlie Hebdo ehren will, ist geradezu abenteuerlich."
Um den Trauermarsch in Chemnitz tobt der Streit nicht nur auf der Straße, sondern auch auf Twitter. "Wir reisen aus Bayern an, um Daniel stellvertretend für all die Opfer die Ehre zu erweisen", schreibt die stellvertretende AfD-Landesvorsitzende Heike Themel. Beatrice Weizsäcker, Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchentags, glaubt ihr nicht. "Ausgerechnet heute. Dem 79. Jahrestag von Hitlers Überfall auf Polen", schreibt sie auf Twitter.
Theologe Thielmann vermisst eine zentrale Trauerfeier in der Chemnitzer Schlosskirche. Die bisher angebotenen Friedensgebete und und die geplanten Kundgebungen seien zwar gute Initiativen, reichten aber nicht aus. "Die evangelische Kirche in Chemnitz", so Thielmann, "hat sich von der AfD die Butter vom Brot nehmen lassen".