Trauer und Entsetzen
27. April 2002"Wir fragen", so Bundespräsident Johannes Rau, "wie so etwas geschehen kann"; und wir wollen keine schnelle Antwort geben. Wir wollen trauern mit den Angehörigen. Und Bundeskanzler Gerhard Schröder mahnt, sich Zeit zu nehmen, um das zu verarbeiten, was da in Erfurt, der Hauptstadt des Bundeslandes Thüringen, im Gutenberg-Gymnasium am 26. April 2002 geschehen ist. Ein 19-jähriger Schüler, den man im Januar des Gymnasiums verwiesen hatte, kehrte an diesem Tag in die Schule zurück und tötete 16 Menschen, vor allem Lehrer - und sich selbst.
So etwas hat es in Deutschland noch nie gegeben. Wenn überhaupt, dann kannte man Ähnliches nur aus den USA, wo jeder leicht an jede Waffe gelangen kann. Just an dem Tag, da der Deutsche Bundestag das Waffengesetz verschärft, stürmt der 19-jährige, schwarz vermummt, nur die Augen sind frei, die Schule und tötet. An diesem Tag ändert sich das Leben vieler Menschen in Erfurt; Angehörige trauern um ihre Toten; Zukunftspläne sind jäh Makulatur geworden; Hoffnungen sind mit dem geliebten Menschen gestorben; Leiden und Trauer und die schreckliche Erinnerung an den 26. April des Jahres 2002. Hunderte Schülerinnen und Schüler werden nie vergessen können, was mitten unter ihnen geschehen ist; und einige sind gar Zeuge geworden, wie vor ihren Augen Lehrerinnen und Lehrer, Mitschülerinnen und ein Polizist starben.
Es ist richtig, dies ist die Stunde der Trauer und nicht der schnellen Antworten. Während in Deutschland die Fahnen auf halbmast stehen und in Thüringen alle kulturellen Veranstaltungen an diesem Wochenende abgesagt worden sind, wird versucht, das Unbegreifliche begreifbar zu machen. Bundesinnenminister Otto Schily fragt, was in unserer Gesellschaft los sei, dass so etwas wie der Amoklauf von Erfurt möglich ist. Und er weist darauf hin, mit welchen Gewaltszenen wir unsere Jugend täglich im Fernsehen, in Filmen und Videos traktieren.
Psychologen wollen registriert haben, dass die Gewaltschwelle in Deutschland gesunken ist, dass die Aggression an den Schulen zugenommen hat. Das aber rückt immer erst dann in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, wenn Amokläufer gezielt oder wahllos töten.
Im November 1999 ersticht in Meißen ein 15-Jähriger vor den Augen seiner Klassenkameraden eine Lehrerin. Das Motiv: Hass. Im März 2000 tötet im oberbayerischen Brannenburg ein 16-Jähriger den Internatsleiter. Er war von der Schule verwiesen worden. Und jetzt Erfurt. Auch dort hatte der Täter einen Verweis erhalten. Monate später kehrte er bewaffnet an den Ort seiner Kränkung zurück.
Schnelle Antworten verbieten sich. Trauer in Deutschland, Fassungslosigkeit, Bestürzung - und viele, viele Fragen.