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19. Wie geht eigentlich blind sein?

10. Mai 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Wie schlimm ist es wirklich und wie lebt es sich blind? Wir sprechen mit Zweien, die zum Thema bloggen.

https://p.dw.com/p/3swqv

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Blind zu sein oder blind zu werden, das gilt für viele Menschen als das Schrecklichste überhaupt. "Dann doch lieber im Rollstuhl oder Arm ab", heißt es manchmal. Aber auch: "das könnte ich nicht," "Da würde ich mich umbringen" habe ich schon gehört. Die Menschen können es sich einfach nicht vorstellen. Es heißt, 80 Prozent der Wahrnehmung findet über das Auge statt. Und, naja, da bleibt dann halt nicht mehr viel, wenn das wegfällt. Das Ergebnis des Ganzen ist eine ungute Mischung aus Angst, Entsetzen und Mitleid, die den Blick verstellt und Vorurteile beflügelt. In "Echt behindert!" leisten wir heute Aufklärungsarbeit: Wie funktioniert ein Leben mit Blindheit? Wie furchtbar ist das denn am Ende wirklich? Und wie sieht der Alltag von blinden Menschen aus? 

Wer diesen Podcast schon mal gehört hat, weiß, dass ich selbst blind bin. Aber keine Angst, ich rede jetzt hier nicht 20 Minuten vor mich hin. Ich habe zwei Menschen zu Gast, die sich mit Blindheit auskennen und in ihren Blogs darüber schreiben. 

Lydia Zoubek schreibt auf Lydia's Welt über den Alltag einer blinden Mutter mit arabischen Wurzeln. Heiko Kunert ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins in Hamburg. Der meistgeklickte Artikel auf seinem Blog heißt: "Euer Mitleid kotzt mich an." Darüber müssen wir natürlich gleich noch reden. Doch erst einmal: Hallo zusammen!

Heiko Kunert: Hallo, Matthias.

Lydia Zoubek: Hallo.

Matthias Klaus: Lydia, was hat dich dazu gebracht, über Blindheit zu bloggen? 

Lydia Zoubek: Eigentlich eine Sache, von der man es am allerwenigsten erwartet hat, nämlich eine Schule in Jordanien von der ich so begeistert war, dass ich gesagt habe: "Das wird mein soziales Projekt, das ich unterstützen möchte." Dann kam so das eine zum anderen: Ich könnte ja mal einen Gastbeitrag bei einem anderen blinden Blogger schreiben. Dazu kam es nicht.

Und irgendwann hatte ich dann selbst die Idee: "Ich fange einfach mal an zu bloggen", und habe mit meinem ersten Artikel als blindes Kind arabischer Eltern so viele Aufrufe gekriegt, dass mich das einfach animiert hat, weiter zu bloggen. Und das tue ich jetzt seit fast fünf Jahren.

Matthias Klaus: Was sind denn die Themen, über die du schreibst?

Lydia Zoubek: Nun, das sind drei Schwerpunktthemen. Das eine ist "Blindheit, Sehbehinderung." Das andere ist der "Alltag als blinde Eltern oder blinde Mutter." Und das dritte ist ja "Blindheit: Sehbehinderung im Ausland."

Matthias Klaus: Wie blind bist du denn genau? Es gibt ja doch eine Menge zwischen leichte Sehbehinderung bis hin zu gar keine Lichtwahrnehmung mehr. Wo würdest du dich da einordnen?

Lydia Zoubek: Ich kann noch Grobe Umrisse erkennen. Keine Farben, keine Details.

Matthias Klaus: Also auch nichts lesen z.B.

Lydia Zoubek: Nein.

Matthias Klaus: Heiko, wann hat das denn bei dir angefangen, dass du öffentlich blind geworden bist im Internet?

Heiko Kunert: Das hat 2008 angefangen. Ich war damals relativ frisch Öffentlichkeitsarbeiter für den Blinden- und Sehbehindertenverein in Hamburg und wir wollten damals ohnehin auch mehr in den digitalen Bereich gehen. Wir waren damals der erste Blinden- und Sehbehindertenverein im deutschsprachigen Raum, der das gemacht hat.

Und ich als selbst Betroffener, ja... Ich war es ja eigentlich vorher schon gewöhnt, mein Leben lang Öffentlichkeitsarbeit im Sinne der blinden Menschen zu machen und dachte dann kann ich das auch öffentlicher im Internet machen und habe damals meinen Blog gestartet und dann später auch Twitter, Facebook usw. bedient.

Und ich hab zunächst ähnlich wie Lydia das eben beschrieben hat, Begebenheiten aus meinem Alltag beschrieben. Aber immer auch natürlich mit der Querverbindung zu meiner Arbeit, zu der Interessenvertretung des Blinden- und Sehbehindertenvereins, welche Themen wir da so beackert haben. Und seitdem bin ich dabei auch online zu den Themen Blindheit, Sehbehinderung, Inklusion, Barrierefreiheit, Teilhabe zu schreiben.

Matthias Klaus: Ich hab's ja anfangs gesagt: Für viele ist Blindheit ja so immer ziemlich das Schlimmste. Wie schlimm ist es denn wirklich? Mal so gefragt! Was meint ihr beiden? Wie ist es, als Blinder zu sein? Ist das schlimm?

Heiko Kunert: Ja, wie schlimm ist es? Für mich ist es jetzt überhaupt nicht mehr schlimm, weil es für mich halt selbstverständlicher Teil meines Lebens ist. Ich bin blind, seit ich sieben Jahre alt bin. Insofern, ich bin jetzt 44, ich hatte ein paar Jahre Zeit, mich daran zu gewöhnen. Allerdings ist das natürlich nur ein Teil der Antwort, denn ich hatte eben in diesen vielen Jahren auch die Möglichkeit, Strategien zu entwickeln, Dinge zu lernen, um eben gut mit meiner Blindheit zurechtzukommen. Sehr eigenständig sein zu können.

Wenn eine Blindheit erstmal so eintritt, dann ist sie natürlich schon schlimm und ein auch traumatischer Einschnitt ins Leben. Wir beraten ja beim Blinden- und Sehbehindertenverein in Hamburg eben auch viele neu Betroffene. Das sind oft auch ältere Menschen, weil ganz oft tritt so ein Sehverlust eben durch altersbedingte Augenerkrankungen ein.

Und wenn du die Menschen fragen würdest, dann würden die sagen: "Das ist einfach das schlimmste im Moment." Weil, ja... Es ist einfach so! Es ändert sich dann doch sehr, sehr viel, wenn man vorher eben sein Leben lang hat gut sehen können und man das dann schleichend oder plötzlich nicht mehr kann, dann ist das schon erst einmal ein großer Einschnitt.

Matthias Klaus: Lydia, wie schlimm empfindest du deine Blindheit?

Lydia Zoubek: Nun, ich bin ja blind geboren. Ich habe vielleicht ein bisschen mehr gesehen als jetzt. Und seit ich denken kann, bekam ich immer gesagt: "Du bist blind. Sehen wäre doch so toll. Und das fehlt dir. Und das hast du nicht." Und ich habe irgendwann gelernt: Man hat von mir einfach erwartet, dass ich etwas vermisse, von dem ich noch nicht einmal weiß, wie es ist. Ich habe keine Vorstellung davon, wie es ist, normal zu sehen. Und wenn ich etwas nie hatte, dann kann ich es nicht wirklich vermissen.

So, ich hatte ja nun ein Leben lang Zeit, mich mit der Sehbehinderung, so wie sie eben ist, die für mich normal ist, auseinanderzusetzen, Techniken zu lernen, um diese eben zu kompensieren und ganz normal am Leben teilzuhaben. Und deswegen ist es für mich jetzt nicht so schlimm oder gar nicht schlimm. Schlimm sind eher dann Barrieren, wo ich mit meiner Technik oder mit meinen Mitteln scheitere und dann überlegen muss: Wie machst du das jetzt? 

Matthias Klaus: Welche Barrieren in der Umwelt gehen dir denn so am meisten auf die Nerven?

Lydia Zoubek: Bushaltestellen, die so auf Kopfhöhe anfangen. Die gibt’s auch in Form von Straßenschildern oder aufgeklebten Plakaten. Irgendwelche Schranken, die auf Brusthöhe anfangen, sodass man mit dem Stock drunter durch pendelt. Gerade so auf unbekannten Wegen: Das liebe ich auch ganz besonders (Ironie in der Stimme). Fehlende Haltestellen, Ansagen bei Bussen oder Busfahrer, die einem nicht sagen wollen, welcher Bus da gerade einfährt. Auch das hab ich hier hin und wieder (erlebt). 

Matthias Klaus: Du sagtest gerade mit dem Stock. Du läufst mit dem Stock. Wie funktioniert das?

Lydia Zoubek: Der Stock ist quasi mein Auge am Boden. Das heißt, ich habe ihn in der rechten Hand, ich bin Rechtshänderin. Und wenn ich einen Schritt nach rechts machen möchte, geht vorher der Stock nach rechts und tastet erst einmal ab: Ist da ein Hindernis oder kann ich den Schritt machen?

Das klingt ein bisschen kompliziert, aber es ist eigentlich ein Automatismus, der sich irgendwann einstellt. Das heißt: ich pendele nach links, setze in derselben Zeit den Schritt, den rechten Fuß nach vorne und umgekehrt. Und diese Pendelbewegung tastet den nächsten Schritt für mich ab. Der Stock, geht mir so, wenn ich stehe, bis unter die Achseln. Das ist so die Schrittlänge, die ich brauche, um eben entsprechend abgesichert zu sein.

Matthias Klaus: Und mit diesem Stock kommst du überall hin oder sagst du: "Nein, das mache ich nur da, wo ich mich auskenne"? 

Lydia Zoubek: Nein, ich gehe auch mal unbekannte Wege, wenn es erforderlich ist.

Matthias Klaus: Heiko, wie ist das bei dir? Bist du Stock-Nutzer oder Hunde-Nutzer?

Heiko Kunert: Ich bin auch Stock-Nutzer. Tatsächlich bin ich nicht so der Hundefan und wenn man einen Führhund hat, dann bedeutet das natürlich auch eine Verantwortung für das Tier. Man muss regelmäßig Gassi gehen und so weiter und so fort. Insofern bin ich auch Stock Nutzer.

Mir geht es da ähnlich wie das was Lydia eben gesagt hat: Das Thema, um nochmal kurz darauf zurückzukommen, wann die Blindheit wirklich ein Problem ist: Das ist sie tatsächlich oft dann, wenn die Umwelt eben nicht darauf eingestellt ist. Und wenn ich jetzt mit meinem Stock z.B. durch die Stadt gehe, dann sind es eben ganz oft die Barrieren. Entweder die physischen Barrieren, sowas wie fehlende Ansagen an den Haltestellen z.B.

Also gerade, wenn irgendetwas Außergewöhnliches passiert: Der Zug hält mal an einem anderen Gleis, wo er sonst nicht hält oder ähnliches, und das wird dann nicht angesagt. Dann ist das eine Barriere, weil ich eine Information nicht bekomme, die meine sehenden Mitmenschen visuell wahrnehmen können - weil irgendwo am Zug oder am Display steht, wohin der fährt.

Aber es wird nicht angesagt und dann wird es plötzlich schwierig. Dass es schwierig wird, liegt ja dann eben nicht primär daran, dass ich nicht gucken kann, sondern einfach daran, dass bestimmte, eigentlich auch etablierte Standards der Barrierefreiheit nicht eingehalten werden.

Und das andere sind dann ja die Barrieren in den Köpfen, die - da könnt ihr mir wahrscheinlich auch aus eigener Erfahrung beide zustimmen - es oft nicht leicht machen. Also wenn wir halt mit Vorurteilen zu tun haben, mit Unwissenheit zu tun haben, dass Menschen einfach so ein Bild von Blindheit haben, wie du es auch, Matthias, eingangs gesagt hast.

So ein Bild, dass das eben das Allerschlimmste ist auf der Welt - sich vielleicht vorstellen, Blindheit sei so wie: "Ich als sehender Mensch mache meine Augen zu und so ist es dann, blind zu sein". Doch so einfach ist es halt ja nicht, weil wir eben gelernt haben, mit dem Stock zu gehen, uns mit dem Gehör zu orientieren, die Blindenschrift gelernt haben, technische Hilfsmittel haben, die uns den Alltag erleichtern und so weiter und so fort.

Insofern ist das wirklich Unangenehmste, wenn ich entweder damit konfrontiert bin, dass Menschen meinen, ich als blinder Mensch könne alle möglichen Dinge nicht, obwohl ich die ganz gut kann oder eben ja, ich bemitleidet werde, wenn ich das eigentlich gar nicht will. 

Matthias Klaus: Gibt's denn irgendetwas, was du gar nicht kannst?

Heiko Kunert: Ich kann wahrscheinlich nicht gut Pilot werden. In meinem Alltag gibt es sicherlich Dinge, die ich nicht allein kann. Also ich brauch schon entweder eine technische Hilfe oder auch eine menschliche Hilfe.Wenn ich z.B. meinen Arbeitsplatz nehme, dann gibt es einfach bestimmte Dinge, die kann ich nicht allein.

Also, ich kann z.B. kein handschriftlich verfasstes Testament selber lesen. Da brauche ich einen sehenden Menschen, der mir das vorliest. Das ist dann eine Arbeitsassistenz, die ich bei meinem Arbeitgeber habe, die vom Integrationsamt finanziert wird und der ich dann eben sage: "Bitte lies mir das jetzt einmal vor."

Oder bei anderen Sachen scanne ich mir die ein oder ähnliches. Also - natürlich gibt es das! Nur ich finde das ist ja gerade das konsequente: Wenn wir von einer inklusiven Gesellschaft reden, dass es dann eben die Möglichkeit gibt, dass das kompensiert wird, dass z.B. sowas, wie Arbeitsassistenz gut ausgestattet finanziert wird - so, dass ich dann eben doch selbstbestimmt arbeiten kann.

Matthias Klaus: Die Zahl der Arbeitslosen unter Schwerbehinderten ist, glaub ich, im Schnitt doppelt so hoch wie unter Nichtbehinderten. Aber bei Blinden sieht es ja nochmal anders aus. Weißt du wie es steht um blinde Menschen in Arbeit überhaupt?

Heiko Kunert: Ja, da sieht es wirklich schlecht aus. Es gibt Schätzungen, wonach nur rund 30 Prozent der blinden Menschen im erwerbsfähigen Alter überhaupt auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Und die anderen 70 Prozent sind entweder arbeitssuchend oder Frühverrentet oder in irgendwelchen Maßnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung oder, oder. Also da ist es wirklich ganz, ganz problematisch was die Teilhabe am Arbeitsleben angeht.

Und wenn wir bedenken, was die Arbeit in unserer Gesellschaft für einen hohen Stellenwert hat und auch nicht nur was es bedeutet, selber Einkommen zu haben, sondern auch, was es im Ansehen bedeutet - welchen Stellenwert Arbeit in dieser Gesellschaft hat, dann ist das schon ein Armutszeugnis, dass so viele blinde Menschen, die zum Teil sehr, sehr gut ausgebildet sind, keinen Job finden.

Jingle: Sie hören "Echt behindert!" den Podcast für Barrierefreiheit und Inklusion der Deutschen Welle. Wir sind auf allen gängigen Podcastplattformen. Email Feedback und Kommentare an [email protected]. Mehr Infos und Links gibt es unter dw.com/echtbehindert. Bewerten Sie uns, wo immer Sie uns hören.

Matthias Klaus: Lydia, zu dir nochmal zurück - zum Thema Alltag: Hast du so etwas wie ein Lieblings Alltags-Hilfsmittel oder etwas, wo du sagst: "Das hilft mir wirklich besonders oder am meisten"?

Lydia Zoubek: Ja, das ist mein Smartphone.

Matthias Klaus: Das solltest du vielleicht erklären.

Lydia Zoubek: Es ist mein Smartphone. Also jedes handelsübliche iPhone hat eine mitgelieferte Sprachausgabe. Die nennt sich "VoiceOver." Das ist eine Bedienungs-Hilfe, die man optional zuschalten kann. Und die macht es möglich, dass ich den Inhalt des Bildschirms vorgelesen bekomme. Damit kann ich meine E-Mails, meine Nachrichten lesen, beantworten, bearbeiten. Ich kann Podcasts hören. Ich kann chatten. Also alles das, was normal sehende Menschen auch mit dem Smartphone machen können. Von Nachrichten schreiben bis zum Spielen ist alles möglich.

Matthias Klaus: Das ist etwas, was auch gar nicht so viele Leute wissen, wo sie sich dann immer wundern: "Was machen die Blinden da mit dem iPhone?" Man kann auch noch den Bildschirm dunkel schalten und dann sieht es so aus, als würde man auf einem kaputten iPhone herum wedeln. Da hatte ich schon sehr viele interessante Begegnungen bei dieser Gelegenheit.

Trotzdem muss man auch mal vielleicht hier noch etwas sagen: Wir haben da natürlich Probleme! Das heißt: Diese ganzen Apps, die wir benutzen... und wirklich sehr viele Blinde benutzen Smartphones... haben unser Leben verändert in den letzten 10 bis 15 Jahren. Das muss man wirklich sagen, auch was z.B. Navigation angeht.

Seitdem laufe ich viel mehr alleine durch die Gegend. Aber dann gibt es so Probleme wie eine App, die von staatswegen verpflichtend ist - wie es jetzt bei der Luca-App zur Kontaktverfolgung für Corona aussieht - die ist nicht barrierefrei! Da sind wir an einer Stelle, wo sich einfach mal wieder jemand nicht drum gekümmert hat. Lydia was denkst du, wenn du sowas hörst? 

Lydia Zoubek: Ich denke dann immer: einerseits haben wir Sensibilisierungsmaaßnahmen betrieben, um eben die Menschen für Barrierefreiheit zu sensibilisieren. Zu sagen: Hier - Das brauchen wir, damit wir aktiv teilhaben können!" Und gerade von der öffentlichen Hand, durch die das ja auch finanziert wurde, erwarte ich schon ein gewisses Maß an Sorgfalt und die wurde einfach vergessen. Das heißt kurzum, Da hat man halt geschlampt.

Heiko Kunert: Ich find's auch tatsächlich besonders problematisch, was da jetzt an Geld hineinfließt, um diese Lizenzen zu kaufen. Und das ist ja nicht nur, dass da einer geschlampt hat: Der Entwickler der Luca-App, das kann ich ja noch irgendwie nachvollziehen, dass die dann vielleicht irgendwie erstmal bei der Entwicklung der App das "Know-How" noch nicht so parat hatten.

Aber jetzt gibt es 11 Bundesländer, die die Lizenzen erworben haben. Anscheinend haben da ja elf Bundesländer das Thema nicht auf dem Zettel. Und zumindest für öffentliche Stellen gibt es eine gesetzliche Verpflichtung, dass Websites und Apps barrierefrei sein müssen.

Und wenn jetzt so eine privatwirtschaftlich entwickelte App angeschafft wird, dann muss ich doch sagen als Bundesland: "wir setzen diese App erst ein, wenn ihr die Barrierefreiheit sicherstellen könnt." Dass das nicht gemacht wird, dass es tatsächlich… Ja, man kann schon sagen: Ein Skandal! Und auf jeden Fall frustrierend.

Matthias Klaus: Anderes Thema: Lydia, du sagst, du bist Bloggerin, die auch das Thema blinde Eltern hat. Hast du schon mal gehört: "Kinder als blinde Mutter? Muss das denn sein?"

Lydia Zoubek: Ja.

Matthias Klaus: Ja, und wie war das?

Lydia Zoubek: Ich habe als blinde Mutter, als es darum ging, als ich schwanger wurde, drei Dinge zu hören bekommen. Das eine war eben eine ganz kleine Gruppe, die sich für mich gefreut hat: "Toll, wunderbar! Herzlichen Glückwunsch!" Dann gab es eine Gruppe, die gesagt hat: "Ach wunderbar! Du kriegst sehende Kinder, die können dir dann später mal helfen." Und die dritte Gruppe war die Gruppe der Skeptiker, die dann sagte: "Blind und Kind, muss das sein? Und was ist, wenn das Kind auch blind ist? Und wer hilft dir mit dem Kind?" Also gleich die Voraussetzung: "Mama blind? Kind? Funktioniert gar nicht!" 

Matthias Klaus: Warst du denn an einer Stelle, wo du selber mal gezweifelt hast? Sagen wir mal, wo die Kinder wirklich ganz klein waren oder gar was haben? Hast Du Dich gefragt: "Was hab ich mir da angetan?" Oder war das nie der Fall? War immer alles machbar?

Lydia Zoubek: Ich hatte da in der Schwangerschaft lange Zeit, mich mit dem Thema "Blind sein als Mutter" auseinanderzusetzen. Das heißt, ich bin Pragmatiker. Ich bin jemand, der, wenn er ein Problem sieht, sich überlegt, wie kann ich es lösen? Zumal es ja keine Lösungen gibt oder gab für blinde Eltern damals, als ich meine Kinder bekommen habe...

Matthias Klaus: Wie lang ist es her?

Lydia Zoubek: Meine Tochter ist jetzt 21, mein Sohn ist 20. Und da gab es keine Austauschforen in dem Sinne, wie wir sie heute haben. Da gab es keine Lösungen in Sachen Elternassistenz oder irgendetwas dergleichen. Das heißt, wenn ich eine Lösung haben wollte, dann musste ich selber nachdenken, selber mir überlegen. Weil wenn ich sie nicht gefunden habe, dann hat sie kein anderer für mich gefunden.

Ich habe mir dann entsprechend überlegt: "So, was musst du machen. Was ist der Soll-Zustand? Wie kommst du dahin?" Um mal ein Beispiel zu bringen: Ich hatte, als meine Tochter irgendwann anfing, die Welt zu entdecken - also zu laufen draußen auf dem Spielplatz - große Angst davor, dass sie irgendwann mal genüsslich an einer Glasscherbe knabbert und ich das nicht sehe. Also was hab ich gemacht? Ich hab mir für den Spielplatz dann sehende Hilfe organisiert. Entweder hab ich mich mit Freundinnen verabredet, die normal gesehen haben und die Kinder im gleichen Alter hatten. Oder ich hab mir ein Mädchen aus der Nachbarschaft bezahlt, dafür, dass sie eben mit auf den Spielplatz geht.

Oder habe ähnliche Lösungen gesucht, weil ich einfach gesagt habe: Meine Kinder sollen nicht darunter leiden oder etwas nicht haben, nur weil ich nicht sehen kann. Eine Sache, die immer gesagt wurde, Also mein Mann und ich, wir haben beide eine Sehbehinderung: Wir können beide nicht Auto fahren. Und das war für manche Eltern eine Katastrophe: "Was! Kinder und nicht Autofahren? Ja. Wie macht denn ihr das?"

Stand  ich dann vor dem Problem, dass ich irgendwas mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht hätte schaffen können, gab es auch die Möglichkeit, sich Leute zu bezahlen, vielleicht mal den Nachbarschaftshilfe-Verein anzufragen oder sich mit Freunden zu verabreden. Oder ja: Taxi bezahlen - was weiß ich! Früher losgehen! Also ich sag ja immer: "Wenn man möchte, dann findet man die Lösungen."

Matthias Klaus: Heiko, ich wollte dich noch fragen, weil ich es so groß angekündigt habe, zum Artikel "Euer Mitleid kotzt mich an." Das ist ja nun eine grobe Formulierung. Was ist dir denn seinerzeit passiert, dass du solch böse Sätze ins Internet schreiben musstest?

Heiko Kunert: Ich bin, wie jeden Tag, mit der U-Bahn zu meiner Arbeit gefahren. Zunächst wurde mir Hilfe angeboten beim Einsteigen in die U-Bahn. Es wurde gefragt von einer sehenden Mitbürgerin, ob ich denn Hilfe bräuchte beim Einsteigen. Und das hab ich verneint, weil ich eben höre, also die U-Bahn-Türen machen beim Öffnen ein Geräusch. Oder ich kann sie mit dem Stock ertasten. Also ja, ich fahr halt jeden Tag mehrmals mit der U-Bahn und weiß, wie das geht. So brauch ich dabei keine Hilfe. Und das hat mein Gegenüber dann aber nicht wirklich akzeptiert, sondern hat einfach immer weitergeholfen und hat mich dann auch noch bemitleidet: wie schrecklich das alles sei, dass ich blind sei und das sei ja alles ganz furchtbar.

Also es gibt so Tage, da kann ich das ganz gut wegstecken, weil man es irgendwie gewöhnt ist und man ja auch weiß: Dass ist kein böser Wille beim Gegenüber, sondern oft halt wirklich diese Unwissenheit, Unsicherheit über das Thema Blindheit.

Trotzdem ist es natürlich so, dass auch wir nur Menschen sind und das einfach nicht immer hören wollen. Und spätestens, wenn wir gesagt haben, dass man uns jetzt bitte in Ruhe lassen soll oder, dass wir jetzt keine Hilfe brauchen oder so, dann möchten wir doch erwarten können, dass sich daran gehalten wird. Doch das ist eben leider auch nicht immer selbstverständlich: Es kommt immer mal wieder vor, dass ich ungefragt angefasst werde: Also z.B. zu einer U-Bahn Tür geschoben werde, oder, dass vor der Treppe, die ich ja nun mit meinem Stock fühle, jemand mich plötzlich am Arm reißt, um mich davor bewahren zu wollen, die Treppe runterzufallen. Oder, oder...

Und dass uns wildfremde Menschen erzählen, wie schrecklich sie unser Schicksal finden. Oder das Gegenteil: Wie sehr sie uns dafür bewundern, wie wir das alles so hinkriegen. Und ich sag mal: Eigentlich ist die Wahrheit ja irgendwo dazwischen.

Also es gibt keinen Grund, dass man wildfremden Menschen erzählt, dass man sie bewundert oder dass man sie ganz doll bemitleidet. Sondern ich sage jetzt mal so: Im Alltag, in der U-Bahn oder so finde es total super, wenn jemand Hilfe anbietet, gerade in einer Situation, wo vielleicht auch das Gefühl da ist, der Mensch könnte jetzt wirklich Hilfe gebrauchen. 

Es kommt ja vor, dass wir z.B. wenn wir in einer Gegend sind, wo wir uns nicht so gut auskennen, dass wir uns da verlaufen und ich dann z.B. mal auf einen Parkplatz gerate, obwohl ich eigentlich auf dem Gehweg bleiben will. Und dann bin ich da irgendwo zwischen parkenden Autos und finde nicht so gut wieder raus. Da bin ich natürlich froh, wenn jemand kommt und fragt, ob er mir helfen kann. Aber in 95 Prozent der Fälle wissen wir ja ganz gut, wo wir unterwegs sind. Und da dann so aufgedrängte Hilfsbereitschaft bis hin zum Bemitleiden, das ist eben schon sehr, sehr anstrengend und ein bisschen weit ausgeholt.

Aber um das kurz zu machen, ich musste mir da damals einfach mal Luft machen und hab diesen Blog Beitrag "Euer Mitleid kotzt mich an" verfasst. Damals war mein Blog eher so zwei, zweieinhalb Jahre alt und der Artikel ging dann plötzlich durch die Decke, weil zum einen sehr, sehr viele Menschen mit Behinderung nicht nur blinde Menschen, sondern auch Menschen im Rollstuhl und so weiter sich darin sehr wiedergefunden haben und diesen Artikel deswegen geteilt und kommentiert haben und zum anderen es aber eben auch einen wunden Punkt bei vielen sehenden Menschen getroffen hat, die dann in Konfrontation gingen und sagten: "Ja, wenn ihr nicht wollt, dass man euch hilft, dann helfen wir euch halt jetzt gar nicht mehr."

Und das ergab eine ganz lebendige Diskussion damals in den sozialen Medien und unter dem Blogbeitrag auch selbst. Und das hat dann wirklich ganz gute Kreise gezogen. Inzwischen ist der Artikel in mehreren Schulbüchern erschienen und wird da diskutiert und so! Das finde ich ganz spannend.

Lydia Zoubek: Ich finde auch, dass gerade diese Hilfe, die manchmal oder auch oft zur Übergriffigkeit hin tendiert, einen auch in Gefahren bringen kann. Ich weiß noch: Ich bin irgendwann hier in Frankfurt Süd - da ging es eine Rolltreppe runter - und ich bin auf diese Rolltreppe zu. Ich war nicht gerade langsam, gebe ich zu. So war mein Wohlfühltempo. Und rechts übers Geländer kommt so ein Arm, greift nach mir, zieht mich und das hat so wehgetan! Ich habe ihn erstmal mit einem lauten "Hey!" angebrüllt. 

Und er brüllte zurück: "Hey! Ich tu das doch nur für dich!" Ich war so perplex. Normalerweise hab ich dann immer einen Spruch oder irgendwas. Aber da hat es sogar mir mal die Sprache verschlagen. Wo ich auch denke: Leute, bevor Ihr einen anfasst, Guckt doch mal hin!

Matthias Klaus: Ja, oder? Erst mal sprechen und dann anfassen. Wäre ja auch schon mal schön.

Lydia Zoubek: Wenn ich irgendwo angefasst werde, ich weiß ja erstmal nicht: Ist dass Freund oder Feind? Und ich meine: Manchmal hab ich das Gefühl: "Erst schlagen, dann Fragen!"

Matthias Klaus: Genau. Heute bei mir im Podcast "Echt behindert!" waren Lydia Zoubek und Heiko Kunert, die beide einen Blog schreiben, beide blind sind und haben aus ihrem Leben und ihrer Erfahrung mit Blindheit erzählt. Ich danke euch beiden, dass ihr Zeit hattet.

Heiko Kunert: Danke schön.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Jingle: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.