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Politik

Der Muezzinruf ist kein politischer Islam

Mathias Rohe
3. November 2021

Seit Start eines Modellprojekts in Köln, das muslimischen Gemeinden den Gebetsruf gestatten soll, läuft eine hitzige Debatte zu diesem Thema. Der Islamwissenschaftler und Jurist Mathias Rohe analysiert die Argumente.

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Ditib stellt neuen Vorstand vor
Blick auf die Minarette der DİTİB-Zentralmoschee in Köln-EhrenfeldBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Woher die Aufregung um den Ruf des Muezzin in Köln? Hat eine extremistische muslimische Moscheegemeinde beantragt, den Ruf zum Ritualgebet lautstärkerverstärkt erschallen zu lassen? Mitnichten. Die Kölner Stadtspitze hat sich anscheinend ohne konkreten Anlass entschlossen, auf die nach geltendem deutschen Recht bestehende Möglichkeit hinzuweisen, einen solchen Gebetsruf zum Hauptgebet am Freitagmittag für fünf Minuten auszuführen. Die daraufhin entbrannte hitzige Debatte sagt wenig über die geltende Rechtslage aus, umso mehr aber über Befindlichkeiten, Missverständnisse, Fehlinformationen und offensive Selbstpositionierungen.

Zu den Fakten: Der lautstärkerverstärkte muslimische Gebetsruf fällt grundsätzlich in den Anwendungsbereich der im Grundgesetz verankerten Religionsfreiheit (Art. 4 GG). Wie bei allen anderen Grundrechten muss dann im jeweiligen Einzelfall abgewogen werden, ob es stärker gewichtige Gegengründe gibt, hinter denen das konkrete Anliegen zurücktreten muss. Solche Gegengründe können sich hier vor allem aus § 3 Bundes-Immissionsschutzgesetz ergeben: Danach müssen Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft vermieden werden.

Demonstration gegen Moscheeneubau
Rechtspopulisten demonstrieren am 16.06.2007 in Köln gegen den Bau einer MoscheeBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Das gilt übrigens auch für dasGlockengeläut von Kirchen. Auf Verfassungsebene kann hierbei auch auf die "negative Religionsfreiheit" verwiesen werden, die vor übermäßiger Konfrontation mit Religion im öffentlichen Raum schützt. Sicherlich ausgeschlossen wäre demnach ein lautstärkerverstärkter Gebetsruf zu Nachtzeiten, je nach Lautstärke wohl auch direkt neben sensiblen Einrichtungen wie Kliniken. Darum geht es hier aber gerade nicht. Ein kurzer Gebetsruf, der mitten an einem Werktag nicht übermäßig laut ertönt, wird in den meisten Fällen zulässig sein. Selbstverständlich wäre aber jeder einzelne Fall gesondert zu prüfen. In vielen deutschen Städten hat sich eine entsprechende Praxis gebildet, ohne dass es zu nennenswerten Konflikten gekommen wäre.

Minderheitenrechte sind Grundrechte

Was aber ist von den vorgebrachten Gegenargumenten zu halten?

1. "Das kirchliche Glockengeläut zählt anders als der Ruf des Muezzin zum kulturellen Erbe des Landes". Bislang trifft das sicherlich zu, es ist aber rechtlich nicht maßgeblich. Das Recht eines säkularen Rechtsstaats ist dynamisch und reagiert auf geänderte Fakten. Wenn es nun eine nach Millionen zählende muslimische Bevölkerung gibt, ist es eine schlichte Normalität, dass auch sie eine religiöse Infrastruktur errichtet und damit öffentlich sicht- und hörbar wird.

2. "Anders als bei den Kirchenglocken wird mit dem Gebetsruf eine exklusive religiöse Botschaft verkündet". Das stimmt nur teilweise. Der Sinn des liturgischen Geläuts dürfte auch ohne Worte vielen verständlich sein. Das noch immer zu hörende Zwölf-Uhr-Läuten, vormals "Türken-Läuten" genannt, sollte seit dem 15. Jahrhundert einen Sieg im Kampf gegen die "türkische Bedrohung" feiern – damals mit dem Vordringen des Osmanischen Reichs anders als heute eine reale politische Gefahr. Zudem wird der Ruf "Allahu akbar" häufig grob falsch übersetzt. Korrekt heißt er "Gott ist (schlechthin) groß."

Goldener Halbmond Minarett Zentralmoschee in Köln
Der goldene Halbmond auf dem Minarett der Zentralmoschee in KölnBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Für Liebhaber der arabischen Grammatik, die anscheinend auch nicht allen hier lebenden Arabern bekannt ist: "Akbar" ist hier kein Komparativ ("Gott ist größer" - als was denn in einer streng monotheistischen Religion?) und mangels Artikel schon gar kein Superlativ ("Gott ist am größten"), sondern ein sogenannter Elativ mit der genannten Bedeutung. Das darf man im Schutz der Religionsfreiheit so sagen; arabischsprachige Christen tun es auch.

Dass die meisten Religionen einen eigenen Wahrheitsanspruch haben, ist ebenso ein unspektakuläres Faktum, das sie im Übrigen mit vielen nicht- oder antireligiösen Weltanschauungen teilen.

3. "Die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen den öffentlichen Gebetsruf". Das könnte so sein, ist aber rechtlich unerheblich. Demokratische Mehrheiten können vieles entscheiden, aber nicht Minderheiten ihre Grundrechte nehmen. Der Rechtsstaat hat die Aufgabe, gerade auch Minderheiten zu schützen, und lässt deshalb Mehrheitsentscheidungen über Grundrechtsbeschränkungen nicht zu. Unabhängig davon verzichten die meisten Gemeinden auf den öffentlichen Gebetsruf in einer überwiegend nicht-muslimischen Umgebung, weil er dort seinen Sinn verliere; heute erinnere die Gebets-App an den rechtzeitigen Moscheebesuch. Das ist ein durchaus valides Argument, das allerdings nur von den Betroffenen selbst zu beurteilen ist.

Tag der offenen Moschee in Köln
Gläubige beim Gebet in der Zentralmoschee in Köln-EhrenfeldBild: picture-alliance/dpa/R. Jensen

Es sollte aber auch anerkannt werden, dass Präsenz im öffentlichen Raum symbolische Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Leben signalisiert. Das war nicht anders beim erstmaligen Bau repräsentativer Synagogen in den Zentren deutscher Städte im Zuge der bürgerlichen Emanzipation der Juden. Es ist frappierend, wie sehr manche gegen den Ruf des Muezzin gerichteten Argumente den damals gegen den Synagogenbau vorgebrachten Vorbehalten gleichen.

Der Begriff "politischer Islam" hat jede Kontur verloren

4. "Mit der Zulassung des öffentlichen Gebetsrufs werden die Vertreter des 'politischen Islam' auch noch vom Staat 'hofiert'." Dieses "Argument" ist gegenwärtig häufig zu hören und ist im konkreten Zusammenhang polemisch und letztlich rechtsstaatsfeindlich. Unbestreitbar gibt es erhebliche Probleme mit muslimisch-religiösem Extremismus, wie auch mit vielen anderen Extremismen, vor allem dem Rechtsradikalismus in altem und neuem Gewand, und der verfassungswidrigen Muslimfeindlichkeit. Solche Probleme ergeben sich aus einem religiös begründeten rechtsstaatswidrigen Herrschaftsanspruch. Nun hat aber keine einschlägig tätige Organisation einen entsprechenden Antrag gestellt.

Die bloße traditionelle Religionsausübung, sei es durch Bekleidungs- oder Speisesitten, sei es durch bestimmte Rituale, ist keineswegs schon "politischer Islam" im Sinne der zutreffenden Problembeschreibung. Die haltlose Behauptung, der Staat "hofiere" Organisationen des "politischen Islam" zeigt, dass dieser Begriff in der öffentlichen Debatte jede Kontur verloren hat und bisweilen geradezu denunziatorisch gebraucht wird.

Die damit verbundene Generalverdächtigung ohne konkrete problematische Anträge ist nachgerade eine Perversion rechtsstaatlichen Denkens. Nach diesem Denken wird der Verzicht auf grundrechtsgeschützte Positionen zur Voraussetzung für Rechtstreue - eine Absurdität. Es ist dringend geboten, sich gemeinsam mit der übergroßen Mehrheit der muslimischen Bevölkerung für ein friedliches Miteinander in allseitigem Respekt einzusetzen und die extremistischen Ränder in allen Teilen der Gesellschaft gemeinsam in die Schranken zu weisen - so funktioniert Rechtsstaat. Dabei empfiehlt es sich dringend, Kirche und Moschee im Dorf zu lassen; Hyperventilieren verursacht Atemnot.

Mathias Rohe deutscher Rechts- und Islamwissenschaftler
Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Prof. Dr. Dr. h.c. Mathias Rohe, hat Rechts- und Islamwissenschaften in Tübingen und Damaskus studiert, ist Lehrstuhlinhaber an der FAU Erlangen-Nürnberg und Gründungsdirektor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Arabisches und islamisches Recht und Autor zahlreicher Beiträge zum islamischen Recht und zum Islam in Europa.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Qantara.de, dem Internetportal der Deutschen Welle für den Dialog mit der islamischen Welt.

Mathias Rohe Islamwissenschaftler und Jurist, Autor qantara.de
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Arabisten: Muezzinruf muss nicht fremd erscheinen

26.10.2021 Berlin. Der Muezzinruf steht nach Einschätzung der Arabisten Angelika Neuwirth und Dirk Hartwig in enger Verwandtschaft zum christlichen Glockengeläut und dem jüdischen Schofarblasen. In einer muslimischen Umgebung nehme er sich "natürlicher" aus als in Deutschland, "wo der Islam erst spät heimisch wurde und bereits säkulare Verhältnisse vorfand", schreiben die Wissenschaftler in einem Gastbeitrag für die "Welt am Sonntag". Zugleich sei der öffentliche Gebetsruf "eine Minimalbestätigung der Tatsache, dass Muslime heute in Deutschland ihre Religion ausüben". Außer dem Bekenntnis zu Mohammed als Religionsstifter enthalte der Ruf "nichts spezifisch Islamisches", erklären die Koranexperten weiter. "Bereits bei einem groben Blick erkennt man aus der christlichen Tradition Vertrautes wieder", etwa das Glaubensbekenntnis. "Das eindrückliche 'Allahu akbar' entspricht im Christentum der ebenso empathisch eingesetzten Trinitätsformel oder auch jüdischerseits der Betonung der einzigartigen und kollektiv-exklusiven Gottesbeziehung: 'Keiner ist wie unser Gott, keiner ist wie unser König, keiner ist wie unser Retter.'" Entstanden ist der Muezzinruf laut Neuwirth und Hartwig in der Spätantike. Er stehe "exemplarisch für den sensiblen Umgang der frühislamischen Zeit (omaijdischen Zeit) mit den Nachbarreligionen: Wo sich der Islam über den Nahen Osten verbreitete, ohne eine Glaubensmeinung einer anderen Religionstradition zu bestreiten, wurde an ihre Stelle eine abgemilderte eigene gesetzt." Die Wissenschaftler äußerten sich aus Anlass des Modellprojekts zu Muezzinrufen in Köln, das derzeit für Debatten sorgt. Kritiker sprechen von einer unzulässigen Bevorzugung einer Minderheit. Der islamische Gebetsruf beinhalte problematische Botschaften und würde von vielen Muslimen gar nicht als notwendig erachtet. Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) verteidigte indes das Projekt, das auf zwei Jahre befristet ist. (KNA)
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