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Eine Tour über den Maidan

Guy Degem/ pab8. Juni 2014

Auch nach den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine halten Aktivisten den Unabhängigkeitsplatz (Maidan) besetzt. Besucher können bei einer speziellen Tour die Maidan-Zelte, Barrikaden und Orte der Kämpfe besichtigen.

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An improvisierten Verkaufsständen können Souvenirs in den ukrainischen Nationalfarben blau und gelb gekauft werden. (Foto: Guy Degen)
Bild: Guy Degen

Für Olena Klimova ist die Führung von Touristen durch ihre Heimatstadt eine Herausforderung. Denn hier entfaltet sich die ganze Geschichte des Landes vor ihren Augen. Seit zehn Jahren arbeitet sie als Stadtführerin in der ukrainischen Hauptstadt. Vor jeder Tour überprüft sie jedes Gebäude und jedes Zelt rund um den Maidan. So möchte sie ein Gefühl für die Atmosphäre bekommen, die sie in ihrer Tour aufnimmt. "Ich weiß, dass sich jede Nacht hier alles ändern kann", sagt Olena.

Die Touristenführerin zieht ihre Zuhörer durch Geschichten in den Bann, über die sie aus erster Hand berichten kann. Zum Beispiel, als sie an den Protesten teilnahm, die Staatspräsident Viktor Janukowitsch gestürzt haben. Sie ist sich bewusst, dass nicht alle Besucher ihren Interpretationen zustimmen. "Mit ausländischen Besuchern ist es sehr einfach, weil ich zu ihnen sehr direkt sein kann. Aber mit Russen, die nur die Nachrichten der russischen Medien kennen, kann es manchmal zu Auseinandersetzungen kommen."

Viele Barrikaden aus Steinen, Autoreifen und Sandsäcken stehen noch heute auf den Straßen Kiews. (Foto: Guy Degen)
Barrikaden entlang der Instytuka Straße, auf der viele Menschen im Februar von Scharfschützen erschossen wurdenBild: Guy Degen

Ein Treffen mit den Menschen der Revolution

Um in den Bereich, in dem Menschen in Zelten und besetzten Häusern rund um den Maidan leben, zu kommen, muss jeder Besucher durch die verstärkten Check-Points. Sie werden von Männern in Tarnuniformen bewacht. Außerhalb eines grünen Armeezeltes, das von der Straße abgezäunt ist und eine extra Küche und einen Wohnbereich hat, treffen wir Svetlana Skyrpai aus der Tscherkassy-Region im Zentrum der Ukraine. Die 21-Jährige nimmt ihre Kappe ab, um uns ihre lange Narbe am Kopf zu zeigen. Die bekam sie, als sie von Polizisten geschlagen wurde.

Svetlana beschreibt uns die schwierigen Umstände, unter denen die Aktivisten in den überfüllten Zelten hausen. Svetlana will mindestens solange bleiben, bis die Führung um den neuen Präsidenten Poroschenko Parlamentswahlen organisiert. "Ich weiß, dass wir es schaffen, das Parlament zu ändern - mit einfachen Leuten, wie du und ich. Das Leben wird dann für uns einfacher."

Als wir durch die Zeltreihen laufen, fällt auf, dass viele - hauptsächlich männliche - Aktivisten Tarnuniformen tragen. Für einige ist es eine praktische Arbeitskleidung, die sie für das Leben in den Zelten tragen, für andere ist es eine Art Uniform. Olena zeigt verschiede Symbole und Flaggen, die auch über den Zelten wehen. Die rote und schwarze Flagge des ultra-nationalistischen "Rechten Sektors" sticht hervor. Der "Rechte Sektor" ist die radikalste Organisation, die auf dem Maidan vertreten ist. Seine Mitglieder waren in zahlreiche Kämpfe mit der Polizei verstrickt.

.Vor den Zelten liegen viele Helme und selbstgemachte Schilder, aber auch Molotowcocktails und gewöhnliche Spendenboxen aus Plastik. Manche Gruppen sind kreativ, wenn es um das Sammeln von Spenden von Passanten geht. Zum Beispiel bieten sie Touristen die Chance, ein "unvergessliches Foto" zu machen: Sie können sich neben den Aktivisten fotografieren lassen und dürfen dabei eine russische Schusswaffe aus dem Zweiten Weltkrieg halten.

Ein junge Soldat steht mit einem Maschinengewehr vor einem Zelt. Mit ihm kann man sich gegen eine kleine Spende fotografieren lassen. ( Foto: Guy Degen)
Für eine kleine Spende können Touristen Helme anprobieren oder sich mit alten russischen Waffen fotografieren lassenBild: Guy Degen

Weiter in der Mitte des Maidan herrscht Flohmarkt-Atmosphäre: Straßenkünstler, darunter eine Gruppe älterer Frauen in traditioneller Kleidung, spielen und singen vor einer kleinen Menschenmenge. Verschiedene Stände verkaufen Armbänder, Schals und Kappen in den ukrainischen Nationalfarben blau und gelb.

Überall posieren Menschen für Fotos oder machen "Selfies" mit ihrem Handy vor der Kulisse, die an die Maidan-Revolution erinnert. Sieht man sich um, fallen große Stapel aus Mauersteinen, beeindruckende Barrikaden aus alten Autoreifen, Holz- und Metalltrümmern auf - außerdem: das rußgeschwärzte Gerippe der Gewerkschaftsgebäude, gepanzerte Wagen und selbstgemachte Schreine mit Kerzen und verwelkten Blumen, um der Toten zu gedenken.

Eine furchtbare Erinnerung

Als wir ein kleines Stück die Instytuka-Straße entlanggehen, kurz hinter dem Maidan, beschreibt Stadtführerin Olena, wie die Straße zum Schlachtfeld wurde. Zwischen dem 18. und 20. Februar 2014 starben dort 70 Menschen. Unter ihnen auch aufständische Polizisten, die erschossen wurden, als in diesem Bereich Demonstranten vordrangen und dann von der Polizei zurückgedrängt wurden.

"Der Maidan ist wie eine Kuhle. So war es für Scharfschützen leicht, von den umliegenden Hügeln und Gebäuden zu schießen", sagt sie. "Manchmal gab es keine direkten Schüsse auf die Demonstranten, doch Querschläger von der Straße haben Menschen verletzt." Dann stellt sie die Studentin Katja Kobko vor. Katja sagt, sie sei von Polizisten am 18. Februar geschlagen worden, und sie würde nie vergessen, was sie auf der Instytuka-Straße erlebt habe. Die 20-Jährige beschreibt, wie Polizisten die Demonstranten durch die Straßen bis zu einer Barrikade mit nur einer ganz schmalen Passage jagten. In der Panik seien die Leute übereinander gefallen. "Das war eines der schrecklichsten Dinge, die ich je gesehen habe, weil ich selbst unter dem Menschenhaufen lag. Ich habe Männer noch nie so schreien gehört."

Eine Gruppe aus Frauen in traditioneller Kleidung und mit Akkordeon singen zusammen mit Aktivisten, die in Tarnuniform gekleidet sind, ukrainische Volkslieder. (Foto: Guy Degen)
Und jetzt zusammen: Diese Frauengruppe singt zusammen mit Aktivisten traditionelle VolksliederBild: Guy Degen

Sommer der Ungewissheit

Am Ende der Tour setzt sich Olena vor ein Zelt. Dann serviert sie süßen, grünen Tee oder eine einfache Scheibe Weizenbrot mit Schweineschmalz für jeden, der vorbei kommt. Kiews neu-gewählter Bürgermeister, Vitali Klitschko, sagt, dass die Ziele der Maidan-Proteste erreicht wurden und dass die Demonstranten den Platz nun verlassen sollten. Hier aber spricht keiner darüber, bald nach Hause zu gehen. Die Folgen des Maidan und der Kämpfe im Osten der Ukraine bekommt Olena in Kiew zu spüren. "Vor einem Jahr hatte ich drei bis vier Touren an einem Tag. Jetzt habe ich drei oder vier Touren im Monat."

Beim Verlassen des Platzes spielt ein junger Mann ein traditionelles Volkslied auf einem der herumstehenden Klaviere, die zwischen den Zelten stehen. Das Lied handelt von einem jungen Partisanen, der im Kampf für die Ukraine gestorben ist. Menschen jeden Alters singen im Vorübergehen mit.