Tigist Assefa: Von der Mittelstrecke zum Marathon-Weltrekord
25. September 2023Dreieinhalb Minuten schneller als die "große" Paula Radcliffe, mehr als zwei Minuten schneller als der bislang gültige Weltrekord von Brigid Kosgei aus Kenia - was Tigist Assefa am Sonntag beim Berlin-Marathon auf den Straßen der deutschen Hauptstadt zeigte, war beeindruckend, historisch sogar. Die 26-jährige Äthiopierin pulverisierte in 2:11:53 Stunden Kosgeis alte Bestzeit (2:14:04) und ließ die Lauf-Welt mit offenen Mündern staunen.
Zwar war Assefa als Titelverteidigerin in Berlin angetreten, aber eine solche Leistung hatte doch niemand von ihr erwartet - vielmehr hatte niemand überhaupt für möglich gehalten, dass eine Frau eine solche Zeit über die Marathonstrecke laufen könnte. "Ich wollte den Marathon-Weltrekord brechen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine Zeit unter 2:12 werden würde", sagte Assefa selbst nach dem Rennen. "Ich bin sehr glücklich."
Getragen von Berlin
Dieses Glück brach allerdings erst aus ihr heraus, als sie die Ziellinie in unmittelbarer Nähre des Brandenburger Tores überquert hatte. Sie bekreuzigte sich, sank auf die Knie, küsste erst den Asphalt und schließlich ihren Schuh. Zuvor auf der Strecke war sie hochkonzentriert gewesen und hatte mit ernstem Gesicht ihr Programm abgespult. Schon früh war anhand der Zwischenzeiten klar, dass es eine unglaubliche Zeit würde. Sie habe sich in der ersten Hälfte des Rennens zurückgehalten, erklärte Assefa später, "damit ich in der zweiten Hälfte nicht müde bin. Im zweiten Teil konnte ich viel mehr Kraft aufbringen."
Das lag auch an der lautstarken Unterstützung der Berliner. "Ich kann sagen, dass die Leute mich getragen haben, die ganze Zeit bis zum Ziel", sagte sie dem RBB. "Ich möchte mich bei der Bevölkerung hier in Berlin bedanken. Es war eine großartige Hilfe, was sie für mich getan haben."
Den vorletzten der 42,195 Kilometer lief Assefa in 3:03 Minuten. Der Sieger bei den Männern, Marathon-Legende Eliud Kipchoge, schaffte das nur ein paar Sekunden schneller - in 2:59 Minuten. Dabei lief der Weltrekordhalter aus Kenia in Berlin die achtbeste Zeit, in der je ein männlicher Läufer die Marathonstrecke absolviert hat. Auch das unterstreicht, welch herausragende Leistung Assefa gelang.
Ungewöhnlicher Weg von 800 Metern zum Marathon
Dass Läuferinnen und Läufer zum Marathon wechseln, nachdem sie einige Jahre lang auf Distanzen Erfahrung gesammelt haben, die auf der Laufbahn im Stadion ausgetragen werden, ist normal. Kipchoge war vor seiner Zeit im Marathon herausragender 5000-Meter-Läufer. Die Britin Paula Radcliffe war Weltspitze über 5000 und 10.000 Meter, bevor sie schließlich die ganz lange Distanz wählte und von 2003 bis 2019 den Marathon-Weltrekord hielt (2:15:25). Es gibt etliche weitere Beispiele von Athletinnen und Athleten, die am Ende ihrer Karriere von der Bahn auf die Straße wechseln. Auch der wohl populärste Läufer aus Assefas Heimat Äthiopien, Haile Gebrselassie, gehört dazu.
Sehr ungewöhnlich ist dagegen der Weg, den Tigist Assefa genommen hat: Sie begann als 400- und 800-Meter-Läuferin und zeigte besonders auf der doppelten Stadionrunde Talent. Schon mit 17 Jahren stellte sie im Sommer 2014 mit 1:59:24 Minuten ihre Bestzeit auf. Zum Vergleich: Caster Semenya aus Südafrika war 2012 in London mit 1:57:23 Minuten Olympiasiegerin geworden, die Kenianerin Eunice Jepkoech Sun 2013 in 1:57:38 Minuten Weltmeisterin. Assefa wäre in beiden Finalläufen mit ihrer Bestzeit nicht Letzte geworden. Sie kratzte also schon als Teenagerin an der Weltspitze.
Sie gewann 2013 bei den afrikanischen Juniorenmeisterschaften über 800 Meter die Bronzemedaille und startete auf dieser Strecke bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro für Äthiopien. Dennoch entschied sie sich anschließend für den 10-Kilometer-Straßenlauf und schließlich für die Marathonstrecke - angeblich, weil das Laufen in Spikes auf der Bahn bei ihr zu Schmerzen in der Achillessehne führte.
Steigerung um 19 Minuten in sechs Monaten
Assefa stammt aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Zu ihrem Alter gibt es unterschiedliche Angaben. Manche Quellen sagen, sie sei bereits 29 Jahre alt, andere geben den 3. Dezember 1996 als Geburtstag an. Dieses jüngere Alter verwendet auch ihr Manager, der Italiener Gianni Demadonna, der viele afrikanische Top-Läufer unter Vertrag hat. Assefas Trainer ist Äthiopiens "Supercoach" Gemedu Dedefo, der bereits äthiopische Laufstars wie Gebrselassie, Kenenisa Bekele und Tirunesh Dibaba herausgebracht hat.
Ihren ersten Marathonlauf bestritt Assefa erst 18 Monate vor ihrem jetzigen Weltrekordlauf. Im März 2022 benötigte sie noch 2:34 Stunden für die Strecke. Bei ihrem zweiten Start, dem Berlin-Marathon 2022, waren es dann nur noch 2:15:37 Stunden, eine Steigerung um 19 Minuten in nur sechs Monaten. Demadonna erklärte das unter anderem damit, dass sie bei ihrer Premiere nach Corona-bedingter Zwangspause noch acht Kilo Übergewicht mit sich herumgetragen habe.
Sie trainiert unter anderem in Trient im Nordosten Italiens, aber auch in Iten, auf der kenianischen Hochebene, auf etwa 2400 Metern Höhe. Dass Assefa gut ist und schnelle Zeiten laufen kann, war auch ihrem Team klar. "Ich bin absolut sprachlos", sagte Demadonna dennoch nach dem Rekordlauf seines Schützlings in Berlin.
Bessere Laufökonomie dank Wunderschuh
Ungewöhnlich ist auch der Schuh, den Assefa in Berlin benutzte. Das Modell des deutschen Sportartikelherstellers Adidas ist extrem leicht. Die extra dicke Sohle besteht aus einem Schaum, der einerseits den Aufprall der Schritte auf dem Asphalt dämpft, aber gleichzeitig auch Energie nach oben für den nächsten Schritt abgibt. Zudem ist in die Sohle eine Carbonplatte eingearbeitet. Man kann mit diesen Schuhen ökonomischer laufen als mit gewöhnlichen Laufschuhen und gewinnt so laut Experten über die Marathondistanz einen Zeitvorteil von vielen Sekunden bis mehreren Minuten.
Der Nachteil des "Wunderschuhs": Er ist nicht sehr haltbar und verliert seinen leistungssteigernden Effekt schon nach wenigen Stunden Benutzung, danach gehört der 500 Euro teure Schuh im Grunde auf den Müll. Assefa ist eine von nur zehn Leichtathletinnen weltweit, die Adidas mit diesem Modell ausrüstet.
Vergleich mit Marathonlegende Abebe Bikila
In ihrer Heimat wird sie nun bereits mit der größten Marathonlegende des Landes, Abebe Bikila, verglichen - eine sehr große Ehre. Bikila gewann 1960 in Rom über die Marathonstrecke die erste Goldmedaille für Äthiopien in der Geschichte der Olympischen Spiele. Er benötigte damals 2:15:16 Stunden für die Strecke. Damit war er zwar langsamer als Tigist Assefa bei ihrem Weltrekord in Berlin, allerdings war Bikila auf den Straßen von Rom auch mit nackten Füßen angetreten.