1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Neue Sicherheitspannen in Brüssel enthüllt

Catherine Martens, Brüssel 12. Mai 2016

Der Chef der Bahn-Polizei erhielt vier Minuten vor dem zweiten Terroranschlag im März eine Warnung. Hätte der Anschlag auf die U-Bahn-Station Maelbeek verhindert werden können? Aus Brüssel Catherine Martens.

https://p.dw.com/p/1ImRQ
Die U-Bahnstation Maelbeek in Brüssel (Foto: DPA)
Bild: picture-alliance/dpa/T. Roge

Call Brussels. Überall in der belgischen Hauptstadt sind die mannshohen Telefonsäulen zu finden. Jeder, der will, kann sich einen der blauen Telefonhörer schnappen und mit Anrufern aus der ganzen Welt plaudern. Die von der Stadt Brüssel schnell ins Leben gerufene Werbekampagne soll Belgiens Ansehen weltweit wieder aufpolieren. Denn Belgien leidet noch immer: unter seinem schlechten Ruf als Terrornest, darunter als "gescheiterter Staat" gesehen zu werden. Doch so schnell wird das kleine Königreich nicht zur Ruhe kommen, ganz gleich, wie oft die Welt in Belgien anruft. Mehr als einen Monat nach den Brüsseler Attentaten sickern immer mehr Ungeheuerlichkeiten durch.

Hätten die Behörden Leben retten können?

Vier Minuten. Hätten vier Minuten den Lauf der Dinge am 22. März 2016 geändert? Diese Frage muss sich der Chef der belgischen Bahnpolizei, Jo Decuyper, seit Mittwoch gefallen lassen. Der extra einberufene Untersuchungsausschuss des belgischen Parlaments beugt sich seit rund zehn Tagen über den Tathergang des 22. März, prüft minutiös jeden Kontakt zwischen Behörden, Militär und Rettungsdiensten - wer hatte wann welche Informationen und was wurde von wem entschieden? Oder viel mehr: nicht entschieden?

Eine Kommunikationslücke räumt Jo Decuyper bei seiner Anhörung selbst ein: Er habe, so Decuyper, in der Tat bereits um 9:07 Uhr eine E-Mail erhalten. Also vier Minuten vor der ersten Explosion in der U-Bahnhaltestelle Maelbeek. In der Nachricht, so Decuyper weiter, sei die unverzügliche Evakuierung aller U-Bahnhöfe angeordnet worden. Er habe jedoch erst "viel später" reagieren können, so der Polizist, da die Nachricht an ihn persönlich adressiert gewesen wäre. Er bedauere, dass sie nicht an den gesamten Stab verschickt worden sei.

Belgien Flagge (Foto: Herwig Vergult/Belga dpa)
Aufklärung schwierig - Belgische Flagge vor dem NationalparlamentBild: picture-alliance/dpa

Eine Antwort darauf zu finden, ob eine sofortige Reaktion hätte Leben retten können, ist müßig. Für den flämischen Abgeordneten Hans de Bonte lohnt sie sich aber dennoch: Dieses jüngste Detail offenbart für ihn einmal mehr die Fragmentierung der einzelnen Behörden und die damit unweigerlich verbundene Existenz von gefährlichen Grauzonen im belgischen Staat. "Es ist viel zu früh, um Schlüsse aus den Anhörungen zu ziehen", meinen Beobachter mit guten Kontakten zum Untersuchungsausschuss vorsichtig. "Aber es drängen sich Fragen auf. Wir können uns nicht erklären", so Kreise des belgischen Parlaments, "warum die Kommunikation derart versagt hat."

Mit "Chaos" umschreibt Jo Decyuper vor den Abgeordneten dann auch den Morgen des 22. März. Nach Auskunft der belgischen Bundespolizei hatten ihre Einsatzkräfte an jenem Tag unzählige Fehlalarme zu prüfen. "Da bleibt keine Zeit, E-Mails zu bearbeiten", so der Flame vor dem Untersuchungsausschuss am Mittwoch.

Schuldzuweisungen im Zuständigkeitswirwarr

Das Innenministerium will eine entsprechende Anordnung zur Schließung der U-Bahn um 8:50 Uhr veranlasst haben. Dem entgegen steht die Aussage des Generaldirektors, Brieuc de Meeus, Geschäftsleiter der Brüsseler Verkehrsbetriebe (STIB). Die STIB habe bis zur Explosion in der Station Maelbeek keinerlei Information erhalten.

Eine weitere drängende Frage des Untersuchungsausschusses an die belgischen Behörden: Warum hat das Krisenkommunikationsnetz ASTRID nicht funktioniert? In Notfällen soll es sicherstellen, dass alle relevanten Dienste, etwa Polizei, Feuerwehr und Militär über dieselben Informationen verfügen.

Polizisten in Brüssel (Foto: DPA)
Zwischen den Behörden gibt es KommunikationsschwierigkeitenBild: picture-alliance/dpa/L. Dieffembacq

Bis Ende des Jahres soll der Untersuchungsausschuss alle Zeugen verhört haben, um die Frage der Verantwortung am 22. März klären zu können.

Rufe nach Reformen werden lauter

Das ist ein ehrgeiziges Ziel. In einem Land, das mit selbsterschaffenen Parallelstrukturen kämpft, neben nationalen noch gleich drei regionale Parlamente besitzt. In dem die Aufklärung von Fehlern einer fast unmöglichen Aufgabe gleicht: Die höchst fragile Regierung,zusammengesetzt aus Flamen und Wallonen, scheut sich - seit den Attentaten - klare Verantwortung zu übernehmen.

Fehlverhalten in Form von Rücktritten ist nicht erwünscht, zu groß ist die Gefahr, die gesamte Regierung könne darüber stürzen. Objektive Fehleranalyse wird zu oft getrübt durch gegenseitige Schuldzuweisung zwischen lokaler und föderaler Ebene, zwischen Flamen und Wallonen. Vor allem die Opposition kritisiert die liberale frankophone Regierung von Premier Charles Michel scharf. Es sei nur allzu bekannt, dass die Polizei reformbedürftig sei, alleine in Brüssel arbeiteten mehrere verschiedensprachige Dienste ungenügend zusammen.

Entsprechend nüchtern beschreiben Personen, die mit den Ermittlungen vertraut sind, den Stand der Dinge: Seit gestern wissen wir nur, dass das Krisenkommunikationsnetz laut Zeugenaussagen am 22. März "ein wenig" überlastet gewesen sei, so lautet es aus Kreisen des Ausschusses. Dass de facto zwei Behörden, auf Bundesebene die Bahnpolizei sowie auf lokaler Ebene die Brüsseler Verkehrsbetriebe, "nicht so miteinander gesprochen haben, wie es hätte sein müssen".

Call Brussels. Bei dieser Art gravierender Kommunikationsschwierigkeiten im Lande nützen auch mannshohe Telefonzellen in der belgischen Hauptstadt nichts. Leider.