Tel Aviv - Die größte Bauhaus-Siedlung der Welt
Sozialer Wohnungsbau
In der Frishman Street steht der weitläufige Gebäudekomplex von Arieh Sharon (1900- 1980). Der in Polen geborene Architekt hatte am Bauhaus in Dessau studiert. 1936 errichtete er im Auftrag der Stadt eine dreistöckige Arbeitersiedlung. Die (damals) preisgünstigen Zweizimmer-Wohnungen waren für Arbeiterfamilien und ärmere Immigranten gedacht und sind um einen schattigen Innenhof mit Kindergarten und Leseraum errichtet. Der Garten wurde gemeinschaftlich gepflegt.
Keine Dekoration ohne Funktion
Für die vielen neuen Einwanderer musste Platz sparender und vor allem bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden. Der auf Funktion ausgerichtete Bauhausstil, der wegen der vielfältigen Herkunft seiner Vertreter auch der "internationale Stil" genannt wurde, trug dieser Entwicklung Rechnung. So wuchsen in den einstigen Sanddünen Häuser in schlichtem Weiß mit klaren, runden Formen, geraden Linien und verkanteten Kuben. Keine Dekoration ohne Zweck. Insgesamt 4000 Gebäude wie dieses in der Bialik Street entstanden zu dieser Zeit.
"Mitbringsel" aus Deutschland
Die Spuren der deutschen Einwanderer sieht man bis heute in Tel Aviv: Nach 1933 durften die Juden in Deutschland das Geld nicht mehr ausführen. "Aber sie durften etwas kaufen. Und da sie wussten, dass sie in der neuen Heimat bauen würden, kauften sie Kacheln, Fensterladen, Türen und anderes Baumaterial und brachten es mit", erklärt Shlomit Gross, Geografin und Mitbegründerin vom Bauhaus Center in Tel Aviv. Auch diese braunen Kacheln in der Ya’el Street stammen aus Deutschland.
Teures Erbe
Seit 2003 ist die Bauhaus-Architektur Tel Avivs Weltkulturerbe. Geld von der UNESCO gibt es dafür nicht – nur Anerkennung. Allerdings kostet eine Renovierung umgerechnet rund 250.000 Euro, erklärt Shlomit Gross vom Bauhaus-Center. Darum verkaufen immer mehr Eigentümergemeinschaften die Dachfläche als gemeinsamen Besitz. Die Einnahmen fließen in die Bauarbeiten, der Käufer erhält im Gegenzug die Erlaubnis, zwei weitere Stockwerke auf das Dach zu setzen. Darum haben viele Häuser heute anstatt der üblichen drei jetzt schon fünf Stockwerke.
Für ein bessere Gesellschaft
Unter der jüdischen Bevölkerung von "Eretz Israel" herrschte eine Stimmung des Neubeginns. Damit traf die Idee der Bauhaus-Architektur den Nerv der Zeit. Man wollte eine neue, egalitäre Gesellschaft gründen, wie sie auch die Kibbuzbewegung kennzeichnete. Das spiegete sich in der Architektur wider: Keine Schnörkel des Jugendstils mehr, keine Symbole der Repräsentation, sondern erschwinglicher Wohnraum für Jedermann, wo viel Licht und Luft ein besseres Leben ermöglichen. "Der Mensch stand im Mittelpunkt. Das war das wichtigste", erklärt Shlomit Gross. "Später wurde dann wichtiger, dass man schnell viele Häuser baut, um mehr zu verdienen."
Gegen den Trend
Mit dem Dunkelblum-Haus in der Ya’el-Street frönte der deutsche Architekt Oscar Kaufmann seiner Vorliebe für Theaterbauten. Er hatte bereits die Krolloper in Berlin und das dortige Hebbeltheater entwickelt; er hatte die Stadtheater in Bremerhaven und Wien sowie das Habimah-Theater in Tel Aviv geplant. Das floß auch in seine Arbeiten an Wohnhäusern ein: Gegen den puristischen Trend der Bauhaus-Moderne bediente sich Kaufmann souverän seiner üblichen Stilmittel: Die Fenster und die Treppe des 1934 gebauten Dunkelblum-Hauses erinnern an ein Theater. Ursprünglich waren die Balkone offen, erst in den 1970er Jahren wurden sie geschlossen, um Wohnraum zu gewinnen.
Anpassung an mediterrane Verhältnisse
Schnell merkte man jedoch, dass die klimatischen und wirtschaftlichen Bedingungen im Nahen Osten ein anderes Bauen als in Mitteldeutschland erforderten. Das 1936 gebaute "Thermometer House", entworfen von Yehuda Lulka, erhielt seinen Namen durch die auffällige, vertikal akzentuierte äußere Gestaltung des Stiegenhauses mit dreieckigen Betonplatten. Die neuen Bauhaus-Bauten in Tel Aviv erhielten außerdem riesige Balkone. Ihre Balustraden wurden mit horizontalen Schlitzen versehen, damit die Luft besser zirkulieren kann, weil im Sommer die Temperaturen in Israel über 40 Grad klettern – für die Deutschen Einwanderer völlig ungewohnt.
Wie das Bauhaus nach Tel Aviv kam
Europäische Einwanderer brachten die Ideen der Bauhaus-Schule mit in die junge Stadt, die erst vor 100 Jahren gegründet wurde. Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 kamen immer mehr Emigranten nach Israel, innerhalb weniger Jahre verdreifachte sich die Einwohnerzahl Tel Aviv auf 150.000. Unter ihnen waren viele Absolventen der besten Architekturschulen Europas, einschließlich der deutschen Bauhausschule in Dessau, die 1933 von den Nazis geschlossen wurde.
Vergessenes Erbe
An den einst hell getünchten Fassaden, die Tel Aviv den Namen "White City" eintrugen, nagen Hitze, Feuchtigkeit und Autoabgase. Balkone wurden zugebaut und an den Fassaden röhren hässliche Klimaanlagen. Ein unrühmliches Beispiel für die Vernachlässigung des architektonischen Erbes ist das 1934 von Zeev Rechter entworfene "Engel-Haus" auf dem vornehmen Rothschild-Boulevard. Die typische, freie Erdgeschosszone ist zugemauert, die Balkone an der Stirnseite sind geschlossen, der helle Verputz ist ergraut.
Stadt der Reichen?
So positiv sich diese Entwicklung auch liest, sie hat auch ihre Schattenseite: Bürger protestieren gegen die ständig steigenden Mieten, Tel Aviv wird immer teurer, immer mehr Familien verlassen die Stadt, sagt Shlomit Gross: "Es gibt Leute, die sagen, dass Tel Aviv eine Tages nur noch eine Stadt der Reichen sein wird."
Im Kino schlafen
Das in der Zamenhoffstraße gelegene "Cinema" wurde erst vor wenigen Jahren aufwändig renoviert und zum Hotel umfunktioniert. Ein Projektor im Foyer und alte Poster an der Wand erinnern an historische Filmzeiten. Architektonisch bekennt sich der 1930 errichtete Komplex vom Treppenaufgang bis zur schneeweißen Fassade zum Bauhaus-Stil. Architekten: Yehuda und Raphael Magidovitch.
Ritterschlag der UNESCO
Erst als die UNESCO 2003 ein Viertel der ursprünglich 4000 Gebäude zum Weltkulturerbe erklärte, setzte sich der bis zu diesem Zeitpunkt nur selten benutzte Begriff "Bauhaus-Architektur" an Stelle der allgemeinen Bezeichnung "internationaler Stil" durch. Damit bekannte sich Israel offiziell zu einer Architekturform, die ihre Wurzeln in Deutschland hatte, und verpflichtete sich mit der Unterzeichnung der Welterbekonvention von 1972 zum Schutz des größten Bauhaus-Freiluftmuseums der Welt. Ein gelungenes Facelifting hat das ehemalige Kino Esther am zentralen Dizengoff-Platz erfahren, das als "Cinema-Hotel" die ursprünglichen Bauhauselemente beibehalten hat.