Tallinn ist Kulturhauptstadt 2011
28. Dezember 2010"Geschichten vom Meer" lautet das Motto Tallinns. Maris Hellrand, Sprecherin des Organisationsteams von Tallinn 2011, weiß warum: "Die Beziehung der Stadt zum Meer ist unser roter Faden. Zwar liegt Tallinn am Meer, dieses Potential hat die Stadt aber noch nicht ausgeschöpft." Der Grund: Bis zum Ende der Sowjetzeit in Estland war das innerstädtische Ufer militärisches Sperrgebiet.
Heute sind die Soldaten zwar weg, doch der Zugang ist noch immer verbaut. Das Kulturhauptstadtjahr soll dies ändern. "Im Moment steht da noch ein altes Gefängnis am Ufer – ein Gefängnis mit Seeblick!", lacht Hellrand, "die Strandpromenade davor wollen wir jetzt aber zu einem Kulturkilometer umbauen". Der "Kulturkilometer" wird das Herzstück der Kulturhauptstadt. Hier sollen die meisten Veranstaltungen stattfinden.
Brennendes Kino, strampelnde Theatergänger
Estland will sich 2011 als modernes, europäisches Land präsentieren. Dazu passt die Einführung des Euro am 1. Januar. Dazu passt aber auch ein Kulturkonzept, das sich von Althergebrachtem löst. Das gilt zum Beispiel für "60 seconds of solitude in the year zero". Initiator Indrek Kasela schwärmt: "Das Projekt ist eine Liebeserklärung ans Kino. Wir haben Regisseure aus aller Welt gebeten, einen Einminüter zum Thema Einsamkeit zu drehen – die werden zu einem Einstundenfilm zusammengeschnitten." Gezeigt wird der Film im August. Allerdings nicht im Kino, sondern auf einer großen Leinwand, die im Meer steht.
Die Besucher können vom Ufer aus zusehen und werden dort erleben, wie am Ende der Performance Leinwand und Filmrolle in Flammen aufgehen. Das Besondere: Die Filmrolle wird die einzige Kopie des Films überhaupt sein. "60 seconds of solitude" ist somit im wahrsten Sinne des Wortes einmalig. Im Zeitalter unbegrenzter digitaler Reproduzierbarkeit will das Projekt damit ein Zeichen setzen.
Etwas nachhaltiger geht es bei einem anderen Projekt zu: Dem für Mai geplanten "MIM goes sustainable", eine Mischung aus Performance und Theater. MIM setzt dabei aber nicht nur Energie frei - es produziert auch selbst welche. Denn hier sind es die Zuschauer, die für Strom sorgen. Während der gesamten Aufführung sitzen sie auf Fitnessrädern, treten in die Pedale und sorgen so für eine Bühnenbeleuchtung, die von fossiler Energie praktisch unabhängig ist.
Einblick in die estnische Seele
Die Macher von Tallinn 2011 wollen Zukunft und Tradition zusammenbringen. Das eigentlich alle fünf Jahre stattfindende estnische Sängerfest wurde deshalb eigens für das Kulturhauptstadtjahr um ein Jahr nach vorne verschoben. Chorsingen ist in Estland ein Jahrhunderte alter Brauch.
Der spielte auch beim Kampf um die die Unabhängigkeit 1991 eine Rolle: Damals protestierten die Esten während der "Singenden Revolution" friedlich mit Chorgesang gegen die sowjetischen Besatzer. Tausende Menschen werden sich Anfang Juli wieder für mehrere Tage auf dem Sängerfestgelände am Rande der Stadt versammeln. Maris Hellrand weiß: "Dieses Fest ist die Chance, während eines Wochenendes in die Seele der Esten zu blicken. Das ist, was wir sind. Das ist, weswegen wir überhaupt sind."
Ein Museum fast im Meer
Der mediale Höhepunkt wird am 15. Juli die Eröffnung des Meeresmuseums sein. Dazu wurde der alte Hangar für Wasserflugzeuge direkt am Ufer umgebaut. Entstanden ist eine große Gewölbehalle mit eingezogenen Balustraden, auf denen dann die Menschen herumlaufen und aufs Meer blicken können. In der Silvesternacht werden die Esten das Kulturhauptstadtjahr 2011 mit einer Feier auf dem Theaterplatz begrüßen. Tallinn freut sich darauf, für ein Jahr im Fokus zu stehen – und den Europäern "Geschichten vom Meer" zu erzählen.
Autor: Friedel Taube
Redaktion: Matthias von Hein