Taktische Manöver im NSU-Prozess
19. Juli 2017Etwa 22 Stunden würde man für das Plädoyer benötigen, sagte Bundesanwalt Herbert Diemer am Dienstag im Prozess gegen den "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) vor dem Münchener Oberlandesgericht. Zuvor hatte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl das Ende der Beweisausnahme angedeutet, wenig später vollzog er es - nach 373 Verhandlungstagen. Doch die Vertreter der Anklage werden am Mittwoch ausgebremst. Von Verteidigern der Hauptangeklagten Beate Zschäpe und drei der vier mutmaßlichen Helfer.
Den Anfang macht Rechtsanwalt Olaf Klemke. Sein Mandant ist der frühere NPD-Funktionär Ralf Wohlleben. Er soll nach Überzeugung der Anklage dafür gesorgt haben, dass der NSU eine Waffe erhielt, mit der die Terrorgruppe mordend durchs Land zog. Die schreckliche Bilanz: zehn Tote. Wohllebens Verteidiger will sich nicht damit abfinden, dass der von Götzl geleitete Strafsenat zu Beginn des 374. Verhandlungstages eine tags zuvor beantragte Ton-Aufzeichnung des Plädoyers ablehnt.
Grünen-Abgeordneter von Notz kritisiert mangelnde Aufklärung
Klemke beantragt daraufhin eine Unterbrechung, um einen "prozessualen Antrag" stellen zu können. Dem will sich Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer anschließen, kommt aber zunächst nicht zu Wort. Nach einer ersten kurzen Unterbrechung von wenigen Minuten dauert die zweite länger als zwei Stunden. Als es endlich weitergeht, haben die Grünen-Bundestagsabgeordneten Claudia Roth und Konstantin von Notz die Zuschauer-Tribüne bereits verlassen. Sie müssen weiter, zu einer Veranstaltung mit ihrem Parteifreund und Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann.
Vor allem der Jurist von Notz, der im Gegensatz zu Roth erstmals beim NSU-Prozess ist, hätte gerne mehr mitbekommen als taktisch motivierte Scharmützel zwischen Verteidigern und dem Strafsenat. Über die ohnehin schon lange Dauer des Prozesses - vier Jahre und zwei Monate - äußert er sich nicht. Das stehe ihm als Vertreter der Legislative nicht zu, sagt er der Deutschen Welle. Als aufmerksamer Beobachter des vor kurzem beendeten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages hat er aber eine klare Meinung zum Agieren der Regierung. Das von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2012 gegebene Versprechen der rückhaltlosen Aufklärung sei "nicht eingelöst" worden.
Richter Götzl: "Wir müssen uns ausführlich beraten"
Während sich die Parlamentarier im fernen Berlin mit der Rolle staatlicher Behörden im NSU-Komplex befassten, müssen die Richter in München die individuelle Schuld der fünf Angeklagten bemessen. Welches Strafmaß die Anklage mit Bundesanwalt Diemer an der Spitze fordert, wird die Öffentlichkeit vielleicht erst nach der Sommerpause Ende August oder Anfang September erfahren. „Die Situation ist die: Wir müssen uns ausführlich beraten", sagt Richter Götzl nach der letzten Unterbrechung am Mittwoch.
Weil der Beratungsbedarf wegen der abgelehnten Tonaufzeichnung so groß ist, setzt er den Verhandlungstag am Donnerstag kurzerhand ab. Weiter geht es erst nächste Woche Dienstag. Dann wird Götzl zunächst den Beschluss des Strafsenats verkünden, ob das Plädoyer der Anklage womöglich schriftlich festgehalten und den Verfahrensbeteiligten ausgehändigt wird. Das wäre aus Sicht sämtlicher Angeklagten-Verteidiger ein Kompromiss.
Bundesanwalt Diemer ist sichtlich genervt
Mathias Grasel, einer von Zschäpes fünf Verteidigern, beharrt auf einer Abschrift des Plädoyers. Seine Mandantin sehe sich nicht in der Lage, "einem 22-stündigen Vortrag zu folgen, ohne ihn im Anschluss schriftlich nochmal rekapitulieren zu können". Bundesanwalt Diemer entgegnet mit dem Hinweis, es werde Pausen geben. Und er fügt - erkennbar genervt - hinzu, es sei nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer "an jeden Verständnishorizont anzupassen". Im Übrigen sei er davon überzeugt, "dass die Angeklagten das verstehen werden, was wir sagen".
Wohlleben-Verteidiger Klemke und seine Kollegin Nicole Schneiders sehen das ganz anders: Ihr Mandant habe aufgrund seiner über fünfeinhalbjährigen Untersuchungshaft "enorme Schwierigkeiten mit seiner Konzentrations- und Merkfähigkeit". Sie glaube auch nicht, "dass Sie das würdigen können, wie man sich nach fünfeinhalb Jahren Haft fühlt", ergänzt Schneiders in Richtung Diemer.
Auch ein weiterer Befangenheitsantrag ist denkbar
Unter dem Eindruck der Wortgefechte halten es manche Verfahrensbeteiligte für möglich, dass die Plädoyers sogar erst nach der Sommerpause beginnen. Denkbar wäre ein weiterer Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Götzl oder den gesamten Strafsenat. Davon wurden seit Prozessbeginn im Mai 2013 schon mehrere gestellt.
Nebenkläger-Anwalt Sebastian Scharmer hält das Vorgehen der Angeklagten-Verteidiger für aussichtslos. Er hätte aber auch kein Problem damit, wenn alle eine Abschrift des Plädoyers bekämen. "Das würde keinem wehtun", sagt er der DW nach einem turbulenten Verhandlungstag im NSU-Prozess. Fortsetzung folgt - nächste Woche.