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Sächsisch auf der bayerischen Alm

26. September 2010

Sie machen auf einer Bergwanderung in Bayern Rast auf einer Alm, eine Bedienung im Dirndl kommt auf Sie zu - und spricht Sie in sächsischem Tonfall an. Keine Seltenheit, aber ein Beispiel gelebter deutscher Einheit.

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Ein Wanderer mit Rucksack kommt beim Almgasthof Lässer an, auf der Terrasse geht eine Bedienung im Dirndl (Foto: DW)
Bild: DW

Der Almhof Lässer liegt in Balderschwang, einem Dorf im bayerischen Allgäu an der Grenze zu Österreich, von deutscher Seite aus nur über eine Passstraße erreichbar. Der Ort hat 240 Einwohner, aber 1200 Gästebetten. Er ist daher dringend auf Fachkräfte von außen angewiesen. Als im Herbst 1989, noch vor dem Fall der Berliner Mauer, Ungarn die Grenze für DDR-Flüchtlinge öffnete, fuhr der Hotelier Eckart Lässer sofort nach Hof in Nordbayern, wo viele Flüchtlinge untergebracht waren, und rekrutierte Mitarbeiter.

Nach der deutschen Wiedervereinigung nahm sich das Arbeitsamt Sonthofen, zuständig für das Oberallgäu, der Sache an. Ostdeutsche Arbeitssuchende, die aufgrund ihrer Bewerbungsunterlagen geeignet erschienen, wurden in Bussen nach Sonthofen gebracht und mit Arbeitgebern bekanntgemacht. Deren Nachfrage war stets groß, vor allem für die Wintersaison, denn das Allgäu ist das deutsche Skigebiet mit den meisten Übernachtungen.

Vor der Wende habe man die Bedarfsspitzen nur mit ausländischen Saisonarbeitern, vor allem aus Osteuropa, decken können, berichtet der Leiter des Sonthofener Arbeitsamts, Wolfgang Scholz, der die Busaktionen seinerzeit organisierte.

Berliner wollten nicht bleiben, Sachsen schon

Junge Leute laden Gepäck aus einem Reisebus, der gerade in Sonthofen angekommen ist (Foto: Wolfgang Scholz)
In Bussen kamen die Fachkräfte aus SachsenBild: Wolfgang Scholz

Die ersten Versuche mit Bewerbern aus Ostberlin gingen allerdings ziemlich daneben. Die Großstädter fühlten sich in der ländlichen Umgebung meist gar nicht wohl und waren nach wenigen Tagen schon wieder weg. Ab 1993 allerdings arbeitete Scholz mit dem Arbeitsamt im sächsischen Annaberg zusammen. Seitdem liefen die Busaktionen wie geschmiert, bald auch in umgekehrter Richtung: Die Arbeitgeber fuhren nach Annaberg. Das ersparte denen, die keine Stelle fanden, die Rückfahrt im fast leeren Bus. Im zweiten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung gingen die Bewerberzahlen allerdings deutlich zurück.

Zum einen kam der Tourismus in den neuen Bundesländern, der nach dem Zusammenbruch der DDR am Boden lag, wieder auf die Füße, zum anderen fanden viele Fachkräfte in Österreich und der Schweiz besser bezahlte Stellen. Nach 2003 fand daher keine Busaktion mehr statt. Die gut eingespielte Zusammenarbeit der Arbeitsämter in Sonthofen und Annaberg ging allerdings weiter.

Zufriedenheit auf allen Seiten

Der Koch David Schimetschke arbeitet am Herd in der Großküche (Foto: DW)
Der Sachse David Schimetschke kocht seit 2006 auf dem Birgsamer Hof im AllgäuBild: DW

So kam 2006 der Koch David Schimetschke aus der Nähe von Leipzig ins Allgäu. Er war vom heimischen Arbeitsamt an die Kollegen in Sonthofen verwiesen worden und fand auf dem Birgsamer Hof, einem Hotel hoch in den Bergen, eine Daueranstellung. "Ich wollte was Neues kennenlernen", begründet Schimetschke seine kurzentschlossene Zusage damals. Er bereut sie nicht. Der Birgsamer Hof sei der beste Betrieb, in dem er bisher gearbeitet habe. Unten im Tal, in Oberstdorf, wohnt er nun mit seiner Freundin, die er dort kennengelernt hat, und fühlt sich in eigenen Worten "wie zuhause".

Zufrieden ist auch seine Chefin Martina Berktold. Und zwar nicht nur mit Schimetschke, sondern generell mit ihren bisherigen Mitarbeitern aus Sachsen. Lachend erinnert sie sich, wie in den ersten Jahren Gäste schmunzeln mussten, wenn sie hier mitten in den Alpen von einer Bedienung mit sächsischem Zungenschlag angesprochen wurden. Zwar habe es auch Mitarbeiter gegeben, die "nicht verstanden haben, dass man auch arbeiten muss, um schön leben zu können". Aber solche, meint Berktold, gebe es überall, und die seien dann auch schnell wieder zuhause gewesen. Und natürlich, ergänzt Wolfgang Scholz von der Arbeitsagentur, gebe es auch Arbeitgeber, bei denen es kein Mitarbeiter lange aushalte.

Aus einer Saison wird ein Leben

Der Eingangsbereich des Hotels, im Hintergrund ein steiler Berghang (Foto: DW)
Der Birgsamer Hof oberhalb von Oberstdorf, Deutschlands südlichstem OrtBild: DW

Auch Eckard Lässer aus Balderschwang spricht überwiegend lobend über seine ostdeutschen Arbeitskräfte. Eine davon war Nadine Bilgeri aus Querfurt im südlichen Sachsen-Anhalt. Sie hatte nach einer dreijährigen Ausbildung zur Restaurantfachfrau in der Heimat keine Arbeit gefunden. Mit einer der Busaktionen kam sie nach Sonthofen und von dort auf den Almhof Lässer. Eigentlich wollte sie nur eine Saison bleiben, aber dann, sagt sie, "bin ich halt hängen geblieben" Drei Jahre blieb sie bei Lässer. 2003 heiratete Nadine Bilgeri dann einen Einheimischen, bekam eine Tochter und betreibt nun mit ihrem Mann einen Bauernhof mit Ferienwohnungen in Balderschwang.

So wie Nadine Bilgeri sind viele, die als Saisonarbeitskräfte kamen, im Allgäu hängen geblieben. Aber es kommen immer weniger Neue nach. Neben der starken Konkurrenz aus Österreich und der Schweiz macht sich neuerdings bemerkbar, dass die Geburtenzahl in Ostdeutschland nach der Wende stark gesunken ist. An der gastronomischen Berufsschule in Sonthofen kam jahrelang ein Drittel der Auszubildenden aus den neuen Bundesländern, heute sind es fast keine mehr. Ganz überwiegend sind die Wirte und Hoteliers im Allgäu wieder auf Saisonarbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen - so wie vor dem Mauerfall.

Autor: Peter Stützle
Redaktion: Hartmut Lüning