Sexualisierte Gewalt in der Kunst
31. Oktober 2022Aus der Geschichte lernen, das ist einer der zeitlosen Appelle, mit denen Horden von Schülerinnen und Schülern in den Geschichtsunterricht starten, mit denen Museen Ausstellungen entwerfen. Wie produktiv das für die Kunstgeschichte umgesetzt werden kann, zeigt die Kölner Ausstellung "Susanna".
Die biblische Susanna
Wie der Name schon sagt, ist das zentrale und einzige Motiv der Schau Susanna. Ihre Geschichte ist unter dem Titel "Susanna im Bade" oder "Susanna und die (beiden) Älteren" in der Bibel festgehalten:
Der Susanna, einer frommen und schönen Ehefrau aus der hohen Gesellschaft im Babylon des 6. Jahrhundert vor Christus, wird von zwei lüsternen alten Richtern nachgestellt. Als sie sich zum Bade entkleidet, kommt es zum Übergriff. Sie wehrt sich, vehement und erfolgreich, wird aber dann von den beiden beschuldigt, selbst Ehebruch begangen zu haben. Es kommt zum Prozess, bei dem Susanna schuldig gesprochen wird. Doch dann erscheint der junge Knabe Daniel und überzeugt die Menge von der wahren Geschichte. Die beiden Alten werden zum Tode verurteilt, und Susanna wird ihrer Familie zurück gegeben.
Überliefert sind zwei unterschiedliche Susanna-Erzählungen, die sogenannte Septuaginta-Fassung muss im 1. Jahrhundert vor Christus entstanden sein und setzt inhaltlich andere Akzente. Doch in oben ausgeführter Form fand die Susanna-Erzählung dann - per Altem Testament - die größte Verbreitung: Sie wurde sowohl in der Rechtsgeschichte als auch in der Kunst vielfach aufgegriffen.
90 Mal verschiedene Opfer, 90 Mal verschiedene Täter
90 Susannen versammelt nun die Kölner Ausstellung, es ist die erste Zusammenführung dieser Art weltweit. Susanna war keine Randerscheinung: Sie findet sich in Alltagsobjekten wie kunstvoll geschnitzten Holzschränken genauso wie in den Arbeiten schon unter Zeitgenossen hoch angesehener Künstler wie Rembrandt oder Rubens.
Könnte es sein, dass sexualisierter Missbrauch immer schon thematisiert wurde? Dieser Frage geht das Gespann aus Kuratorin Anja Sevcik und Kurator Roland Krischel nach, indem sie die vielen Susannen neu aufeinander beziehen und mit modernen Fragen konfrontieren. Sowohl die höchst unterschiedlichen Rollen der Susanna (vom hilflosen Opfer bis zur wehrhaften Frau), als auch der Täter (deren Übergriffigkeit stärker oder schwächer ausfällt, teils in dämonische oder gar antisemitische oder rassistische Versionen ausartet) werden so deutlich - und zugänglich. Inklusive ihrer moralischen und/oder erotischen Aufladung.
Susanna sei ein so interessantes Motiv, weil in ihr sehr viele unterschiedliche Rollen und Themen verhandelt würden, führt das Kuratorenteam aus: Gerechte Herrschaft ebenso wie Glaubensstärke, eheliche Keuschheit, gesellschaftliche Moral, Schönheit oder Voyeurismus. Dabei glauben die beiden nicht an "sex sells" als ausschlaggebenden Beweggrund für Auftraggeber und Künstler: Es sei das Interesse an gefühlsstimulierenden Bildern, welches das Susanna-Motiv so beliebt gemacht hätte.
Der "male gaze", gemeint ist der sexualisierende männliche Blick, sei zwar durchaus spürbar. Die Susanna ist seit dem 15. Jahrhundert meistens nackt dargestellt, oft in recht extravaganten Posen. Andererseits sei auch die stärkste Anklage der männlichen Übergriffigkeit bei einem jungen Maler zu finden, nämlich bei Anthonis van Dyck (1599-1641), so Krischel.
Täter-Opfer-Umkehr?
Deutlich wird auch, wie - je erotischer die Susanna dargestellt ist - eine Umkehr einsetzt: Das lockende Weib wird zur Mitakteurin gemacht - eine Lesart, die die Rollen verkehrt: Noch heute wird Frauen bei Gerichtsverfahren oder öffentlichen Debatten bei sexueller Gewalt oft eine Mitschuld eingeschrieben, sollte sie zum Beispiel irgendwie aufreizend angezogen sein. Dafür reicht je nachdem schon die Abwesenheit einer Haarbedeckung. Die Folgen reichen von Freispruch der Täter, der eigenen Beschämung bis hin zu Verurteilung zum Tode.
Feministische Ikone bei Artemisia Gentileschi
Ein Höhepunkt der Ausstellung ist die Susanna von Artemisia Gentileschi. Die italienische Barockmalerin (1593-1654) war eine bedeutende Malerin ihrer Epoche - und selbst Vergewaltigungsopfer. Sie war eine hoch dekorierte, umtriebige Malerin - ungewöhnlich für ihre Zeit. Gentileschi arbeitete in großen Formaten und setze viele - gewöhnlich männlichen Malern vorbehaltene - Historienbilder sowie mythologische und biblische Themen um.
Die zwischenzeitlich vergessene Malerin wurde von Feministinnen der 1960er und 70er Jahre wieder entdeckt: Besonders ist auch, dass Gentileschi häufig Bilder mit weiblichen Heldinnen - Judith, Lukrezia, Kleopatra, Maria Magdalena oder eben Susanna - malte und die Frauen mit ungewöhnlicher Ausstrahlung darstellte: mutig, entschlossen und tatkräftig. So gilt die Malerin heute als Proto-Feministin.
Fragen ans Heute: Grenzen, Ermächtigung, Opfererzählung
Vereinzelt kommt es auch zu Ausflügen ins Zeitgenössische, so wird auch das Susanna-Motiv in Hitchcocks "Psycho" gezeigt oder fotografische Positionen, etwa von der US-amerikanischen Künstlerin Zoe Leonard.
Gerade bei sexualisierter Gewalt, die ja ein Darstellungsproblem hat, weil explizite Darstellungen häufig re-traumatisierend oder schlicht entwürdigend oder unmöglich sind, ist es stimmig, sich dem Thema über die Kunstgeschichte zu nähern. Dass es über Grenzen, "consent" (deutsch: Zustimmung) oder "victim blaming" (deutsch: Beschuldigung der Opfer) auch in den heutigen Gesellschaften noch viel Gesprächsbedarf gibt, ist nicht nur aber auch im Nachgang der #MeToo-Bewegung mehr als deutlich geworden. Schulklassen bietet das Haus etwa Führungen mit geschützten Räumen zur Auseinandersetzung an. Ein vielversprechendes Modell, um Hemmungen zu überwinden und ins Gespräch zu kommen.