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Supermacht in Erklärungsnot

29. November 2010

Nach den jüngsten Wikileaks-Enthüllungen sind atmosphärische Störungen in der internationalen Politik programmiert. Doch der eigentliche Skandal ist nicht der Inhalt der Dokumente, meint Daniel Scheschkewitz.

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Bild: DW
Daniel Scheschkewitz (Foto: DW)
Daniel ScheschkewitzBild: DW

Der Vorgang ist beispiellos: In vertraulichen bis streng geheimen Dokumenten geben US-Botschafter aus aller Welt ihre Einschätzungen über Verbündete preis. Ungeschminkt wird, im Vertrauen auf den geheimen Charakter ihrer Kommunikation, über teils hochbrisante politische Vorgänge gesprochen. Und nun liest die ganze Welt mit.

Der Leser kann sich ein Bild machen, auf welchem Fundament die Außenpolitik der Supermacht USA gründet - dank eines Internetprotokolls, auf das rund zwei Millionen Menschen weltweit Zugriff haben und das selbst bei verschlüsselten Botschaften die unfassbare Zahl von 800.000 Menschen mitlesen lässt. Hochbrisante Inhalte werden plötzlich Allgemeingut, vertrauliche Depeschen diplomatischer Emissäre erscheinen wie in einer gläsernen Kugel, in der die Außenpolitik einer Weltmacht für alle bis zur Lächerlichkeit preisgegeben wird. Dies ist ein Fiasko für die USA.

Diplomatische Ohrfeigen

Nie zuvor dürfte das Vertrauen in die Supermacht bei Amerikas Partnern derart erschüttert worden sein. Da muss ein deutscher Außenminister lesen, dass er von amerikanischen Diplomaten als inkompetent eingestuft wird. Der Entwicklungshilfeminister wird kaum weniger schmeichelhaft als "schräge Wahl" eingestuft. Selbst die Bundeskanzlerin muss es sich gefallen lassen, als wenig kreativ charakterisiert zu werden. Kleine diplomatische Ohrfeigen, die vor allem deshalb schmerzhaft sind, weil sie von der internationalen Presse nun einem Weltpublikum als Fortsetzungsroman dargeboten werden.

Noch brisanter lesen sich die zum Teil abenteuerlichen Empfehlungen, die befreundete Staaten wie Israel oder einzelne arabische Staaten zum Umgang der USA mit dem Iran machen. Man hält gespannt den Atem an, wenn man liest, wie Amerika hier massiv zum militärischen Eingreifen gedrängt wird.

Diplomatisches Waterloo

Nicht auszudenken, welche Folgen solche Enthüllungen während des Kalten Krieg hätten haben können, als die Welt am Rande einer nuklearen Auseinandersetzung stand. Dabei geht es weniger um die Tatsache, dass Diplomaten das getan haben, was schon immer ihre Aufgabe war: möglichst ungeschminkte Einschätzungen der politischen Verhältnisse und der Politiker ihres Gastlandes an die eigene Regierung übermitteln. Daran ist an und für sich nichts Verwerfliches. Das gehört zum Alltagsgeschäft von Diplomaten in aller Welt. Skandalös ist aber, dass es selbst einer technologischen Supermacht wie den USA nicht mehr gelingt, dies im digitalen Zeitalter geheim zu halten. Die internationale Diplomatie erlebt damit ihr Waterloo.

Das Internet und die sozialen Netzwerke wie Twitter oder Facebook haben die Regeln der weltweiten Kommunikation ganz offenbar verändert. In Zeiten, in denen selbst die NATO den Cyberkrieg übt, darf auch der diplomatische Dienst nicht mehr so tun, als würden noch die Geheimhaltungsregeln von anno dazumal gelten. Geheimes muss aber auch heute noch geheim bleiben können. Denn ohne Verschwiegenheit und Diskretion kann internationale Diplomatie nicht funktionieren. Das gilt für den vertrauensvollen Umgang unter Verbündeten, die man nicht in aller Öffentlichkeit brüskiert. Noch mehr aber ist es die Conditio sine qua non, wenn sensible Sicherheitsfragen berührt sind. Auch wenn sich die Parameter internationaler Kommunikation nicht mehr rückwirkend verändern lassen: Von der Sorgfaltspflicht entbindet dies niemanden. Erst recht nicht eine Supermacht, die das Internet erfunden hat.

Autor: Daniel Scheschkewitz

Redaktion: Dеnnis Stutе