Sturz Lukaschenkos oder harte Diktatur?
10. August 2020Wer jetzt über Belarus (Weißrussland) berichtet, kämpft gegen die Zeit. Seit der Präsidentenwahl am Sonntag sind die Fronten zwar geklärt, doch die Lage ändert sich stündlich. Vor dem Hintergrund schwerer landesweiter Ausschreitungen in der Wahlnacht wurde der autoritär regierende 65-jährige Amtsinhaber Alexander Lukaschenko am Montag von der Wahlkommission zum Sieger mit rund 80 Prozent der Stimmen erklärt. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja liegt demnach weit abgeschlagen auf Platz zwei mit rund zehn Prozent.
Doch die 37-jährige ehemalige Hausfrau erkannte das amtliche Ergebnis nicht an. Sie stellte sich zur Wahl, weil ihr Ehemann, ein Videoblogger, als Kandidat nicht antreten durfte und verhaftet wurde. Ihre Anhänger sehen Tichanowskaja als klare Siegerin über Lukaschenko und zwar mit dem umgekehrten Ergebnis. Beides lässt sich schwer überprüfen, denn unabhängige Wahlbeobachter gab es diesmal nicht.
Erstes Todesopfer bei den Protesten
In der früheren Sowjetrepublik deutet sich ein ungleicher Machtkampf an, der vor allem auf der Straße ausgetragen werden dürfte - auch am Montagabend kam es zu Protesten und Ausschreitungen. Ein Demonstrant kam ums Leben, nach Angaben der Polizei explodierte ein Sprengsatz in seiner Hand, bevor er sie auf die Sicherheitskräfte werfen wollte.
Die Opposition wirkt bisher unerfahren, lernt aber schnell und speist sich aus der Unzufriedenheit mit Lukaschenko. Sie ficht das Wahlergebnis auch vor Behörden an. Tichanowskaja reichte bei der Zentralen Wahlkommission einen Antrag auf Neuauszählung der Stimmen ein.
Lukaschenko lässt Polizei hart durchgreifen
Während die Staatschefs Chinas und Russlands Lukaschenko zum Sieg gratulierten, äußerte die Bundesregierung Zweifel am verkündeten Ergebnis. Mindeststandards für demokratische Wahlen seien nicht eingehalten worden, sagte am Montag in Berlin Regierungssprecher Steffen Seibert. "Berichte über systematische Unregelmäßigkeiten und Menschenrechtsverletzungen sind glaubhaft", so Seibert. Auch Experten stellten gegenüber der DW das amtliche Ergebnis infrage. Eine haushohe Mehrheit für Lukaschenko sei "kein Abbild der Stimmung in der Bevölkerung", meint etwa Jörg Forbrig von der US-amerikanischen Denkfabrik German Marshall Fund (GMF). Zumindest deuteten Ergebnisse aus einzelnen Wahllokalen auf Tichanowskaja als klare Siegerin.
Die Reaktion Brüssels dürfte davon abhängen, wie sich die Lage in den kommenden Tagen und Wochen entwickelt. Die Europäische Union hatte beispielsweise 2010 Sanktionen gegen Belarus verhängt, nach einer Präsidentenwahl und der Niederschlagung oppositioneller Proteste. Lukaschenko wiederholte am Montag seine Drohung an die politischen Gegner: Einen "Maidan", also einen erfolgreichen Aufstand wie 2014 in der benachbarten Ukraine, werde er nicht zulassen.
Was das bedeutet, konnte man am Wahltag beobachten. Die Internet-Verbindung wurde massiv gestört, was eine Mobilisierung der Opposition erschwerte. Und als nach Schließung der Wahllokale zehntausende Oppositionsanhänger, meist junge Männer, auf den Straßen der Hauptstadt Minsk, aber auch in der Provinz protestierten, setzte die Polizei Wasserwerfer, Tränengas und Blendgranaten gegen sie ein. Solche Bilder (im Video unten) hatte Weißrussland lange nicht gesehen.
Manche Protestler in Minsk, so berichten DW-Reporter vor Ort, wirkten ratlos, da es keine Anführer und keine Anweisungen gab. Nach Mitternacht hatte die Polizei die Lage unter Kontrolle gebracht. Die erste Bilanz laut Innenministerium: rund 100 Verletzte und rund 3000 Festgenommene.
Der Anfang vom Ende für Lukaschenko?
Osteuropa-Experten wie Ute Kochlowski-Kadjaia von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung erwarten einen Wechsel: "Ich glaube, dass diese Wahl ein Zäsur in der modernen Geschichte von Belarus ist, die ein Ende der Ära Lukaschenko einleitet", sagte sie im DW-Gespräch. Der seit 26 Jahren regierende Präsident habe seine "Legitimität verloren", im In- und Ausland, westlich und östlich seiner Grenzen, so Kochlowski-Kadjaia mit Blick auf Russland. Sie sieht Belarus vor einer politischen Krise, deren Dauer und Ausgang man nicht abschätzen könne.
"Möglich ist, dass Lukaschenko schon innerhalb weniger Tage nicht mehr Präsident sein wird", sagt Jörg Forbrig vom German Marshall Fund. "Möglich ist aber auch, dass er die Situation doch unter Kontrolle bringt, mit aller Brutalität, die er zur Verfügung hat." In so einem Fall würde er über einen "schwindend geringen Rückhalt" in der Bevölkerung verfügen und müsste dann "im Grunde eine volle Diktatur führen", so der Politikwissenschaftler. Dabei nennen westliche Medien Lukaschenko bereits seit Jahren "Europas letzten Diktator".
Russland profitiert von Lukaschenkos Schwäche
Russland, ein enger Verbündeter Lukaschenkos, sieht Forbrig zur Zeit in einer Beobachter-Rolle. Moskau habe viele wirtschaftliche und mediale Einflussmöglichkeiten in Belarus, die es bisher scheinbar wenig instrumentalisiert hat: "Man sieht mit Wohlwollen, denke ich, dass Lukaschenko geschwächt ist", stellt Forbrig fest.
Kochlowski-Kadjaia glaubt, dass Lukaschenko aus Moskauer Sicht ein schwieriger Partner geworden sei, weil er etwa Kredite eingefordert hatte und später von einem engeren Anschluss abgerückt sei. Sie glaubt jedoch, dass Russland sich mit Minsk arrangieren werde. Lukaschenko sei für den Kreml "noch weiter tragbar". Wie lange noch, scheint offen.