Streit um Nominierung für US-Verfassungsgericht
12. Juli 2005Die Lücke, die der unerwartete Rücktritt der 75-jährigen Verfassungsrichterin Sandra Day O'Connor hinterlässt, gewährt einen Einblick in den Alltag des politischen Betriebs und die Befindlichkeit der amerikanischen Nation. Das Gerangel um ihre Nachfolge zeigt auch, wie unversöhnlich sich Republikaner und Demokraten in Bezug auf fundamentale Wert-Entscheidungen gegenüberstehen.
O'Connor galt als eine Frau der Mitte und des Ausgleichs: Oft stimmte sie mit den konservativen Richtern Rehnquist und Scallia, oft aber auch mit der liberalen Fraktion um Ginsburg und Souter. Bei vielen Entscheidungen des Obersten Gerichts war sie es daher, die letztendlich den Ausschlag gab. So half sie 1973 mit, Abtreibungen auf Bundesebene zu legalisieren, glaubte aber, jeder Bundesstaat solle das Recht haben, sein Abtreibungsrecht nach eigenem Ermessen zu regeln. Sie entschied mit den Liberalen, dass das Anschlagen der Zehn Gebote im Klassenzimmer nicht verfassungskonform sei. Andererseits gab es in Clintons Regierungszeit Gerüchte, sie trete nur deshalb nicht zurück, weil dann einem demokratischen Präsidenten das Recht zugestanden hätte, über ihre Nachfolge zu entscheiden.
Chance der Konservativen
Gerade bei der Besetzung von O'Connors Posten sehen daher Konservative und Ultrakonservative ihre Chance gekommen, die Mehrheitsverhältnisse im Gericht entscheidend zu ihren Gunsten zu verändern und so den sozialpolitischen Kurs des Landes auf Jahrzehnte hinweg festzuschreiben – denn Verfassungsrichter werden in Amerika auf Lebenszeit ernannt.
Nun sieht sich Bush, dem die Ernennung der Verfassungsrichter zusteht, in der interessanten Lage, dass er seinen mutmaßlichen Favoriten für die Nachfolge, nämlich seinen Justizminister und langjährigen Weggefährten Alberto Gonzales, vor der religiösen, sozialkonservativen Rechten – traditionell seine treuesten Verbündeten – in Schutz nehmen muss. Kürzlich forderte er vom konservativen Lager einen maßvolleren Ton in der Debatte um O'Connors Nachfolger, ließ verlauten, er möge es nicht, wenn man seine Freunde angreife, und warf den Ultrakonservativen vor, sie nutzten die Debatte um O'Connors Nachfolge aus, um ihre Sonderinteressen durchzusetzen.
Kritik
Die Religiöse Rechte wirft Gonzales vor, er sei in seinen Urteilen nicht hart genug gegen Abtreibung und Quotenregelungen zur Förderung ethnischer Minderheiten vorgegangen. Gonzales' Verteidiger, allen voran Bush, erwidern, dass ein guter Richter kein Aktivist sein dürfe – seine Aufgabe sei es, die Verfassung zu interpretieren, und nicht das Gemeinwesen nach den eigenen ethischen Überzeugungen umzugestalten. Will Bush also wirklich bloß einen würdigen und kompetenten Richter ernennen, und interessiert er sich nicht im Detail für die politische Linie des Kandidaten?
Der amerikanische Konservatismus ist, ähnlich wie der deutsche, kein einheitlicher Block. Zwischen protestantischen Fundamentalisten, außenpolitischen Hardlinern und Wirtschaftsleuten gibt es Allianzen, aber auch Meinungsverschiedenheiten. Mag Gonzales in sozialpolitischer Hinsicht auch nicht zu den Falken in Washington gehören, so ist er doch bekannt dafür, dass er bei den Guantanamo-Häftlingen die Kategorie des "illegalen Kombattanten" für angemessen und die Genfer Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen für überholt hält. Und dies ist ein Thema, das Bush im Zweifelsfall mehr am Herzen liegt als die Abtreibungsfrage. Gonzales' Zugehörigkeit zur hispanischen Minderheit ist ein weiterer Pluspunkt. Natürlich hofft Bush durch seine Ernennung noch mehr der hispanischen Wähler – bei den letzten Wahlen waren es 40 Prozent – auf die Seite der Republikaner zu ziehen. Und die Demokraten könnten gegen einen Vertreter der größten, bislang aber im politischen Betrieb noch so gut wie nicht repräsentierten ethnischen Minderheit schwer etwas einwenden.
Die Attacken der religiösen Rechten können Bush nur recht sein. Wenn er seinen Spitzenkandidaten gegen das eigene Lager in Schutz nehmen muss, gibt das den Demokraten das Gefühl, dieser Kandidat sei so liberal wie einer, der von Bush kommt, es nur sein kann, und sie werden sich voraussichtlich nicht gegen ihn sperren. Denn theoretisch kann schon ein einzelner Senator die Bestätigung des vom Präsidenten ernannten Richters platzen lassen. Um eine solche Sperrminorität zu brechen bräuchte es 60 Senatoren – die republikanische Mehrheit beläuft sich jedoch nur auf 55.
"Nukleare Option"
Dass der Kandidat des Präsidenten - wer immer es ein sollte - es schafft, ist also nicht gesagt. Doch die Risiken einer Blockadepolitik sind hoch und schwer abzuschätzen. Die Demokraten haben sich in einem Abkommen verpflichtet, unter normalen Umständen Kandidaten des Präsidenten nicht zu blockieren. Im Falle, dass sie sich nicht daran halten, können die Republikaner dem Abkommen zufolge die so genannte nukleare Option wählen, die so heißt, weil sie für beide Seiten vernichtend ist. Die "nukleare Option" würde beinhalten, dass die Republikaner versuchen, die Verfahrensregeln des Senats so zu ändern, dass eine einfache Mehrheit zur Brechung einer Sperrminorität genügt. So könnte die Mehrheitspartei im Senat jeden Kandidaten durchbringen - was natürlich auf die Republikaner zurückfallen würde, sollten sie mal wieder eine Wahl verlieren.
Wegen all dieser Unwägbarkeiten ist es unwahrscheinlich, dass die Demokraten Gonzales zurückweisen würden - einige einflussreiche demokratische Senatoren haben schon vorsichtige Signale in dieser Richtung gesandt. Der sozialkonservative Hardliner (und der dann drohende Kulturkampf) wird also möglicherweise für den nächsten Rücktritt aufgespart – das wird aller Voraussicht nach der des Vorsitzenden, William Rehnquist sein, der im Oktober 85 Jahre alt wird und mit einem Krebsleiden kämpft.