Streit um Evakuierungszone
31. März 201120, 30, 40 Kilometer oder mehr? Wie sinnvoll ist es, einen Sicherheitsradius in Kilometern festzusetzen, wenn es darauf ankommt, die Bevölkerung vor der unsichtbaren Gefahr einer radioaktiven Verseuchung zu schützen? Professor Christoph Hoeschen ist Leiter der Abteilung für medizinische Strahlenphysik und -diagnostik am Helmholtz-Zentrum in München. Die unmittelbare Umgebung eines havarierten Kraftwerks in einem Radius von 20 Kilometern zur Sperrzone zu erklären, wie bei Fukushima geschehen, mache sicherlich Sinn, sagt er, da die Strahlung mit zunehmendem Abstand immer stärker abnehme. Allerdings werde die Strahlung auch durch den Wind verteilt. Die Sicherheitszone pauschal auf 30 oder 40 Kilometer auszudehnen, hält er nicht für besonders hilfsreich. Sinnvoller wäre es, zu messen und zu schauen, in welcher Richtung mit Freisetzungen von Radioaktivität zu rechnen sei, um Evakuierungen gezielt vornehmen zu können.
Alarmierende Strahlenwerte außerhalb der Sicherheitszone
Das fordert auch die Umweltschutzorganisation Greenpeace, nachdem ein Team ihrer Strahlungsexperten in der Stadt Iitate, 40 Kilometer nordwestlich des Kernkraftwerks, Besorgnis erregende Werte gemessen hat. Die Werte seien so hoch, dass die Bevölkerung innerhalb von nur vier bis fünf Tagen die erlaubte Höchstdosis für ein ganzes Jahr abbekäme, erklärt Jan Beranak, Kernenergie-Experte bei der Umweltschutzorganisation. Da das Niveau der Kontaminierung anscheinend kontinuierlich hoch bleibe, sei es ratsam, die Menschen zu evakuieren. Dabei sollten schwangere Frauen und Kinder Priorität haben, weil die Radioaktivität für sie am gefährlichsten sei. Auch die UN-Atombehörde IAEA sowie die japanische Nuklearaufsicht haben der Regierung eine Evakuierung empfohlen. Die Regierung hält eine Evakuierung zur Zeit aber nicht für notwendig.
Die Regierung habe recht, wenn sie bei den jetzigen Messwerten ein unmittelbares Gesundheitsrisiko ausschließe, sagt der Greenpeace-Experte Beranak. Allerdings steige bei den gemessenen Werten das Risiko, später Krebs oder andere Folgeerkrankungen zu bekommen.
Schutzmaßnahmen oder Evakuierung?
Die Experten sind sich nicht einig, bei welchen Messwerten eine Evakuierung beginnen sollte. Christoph Hoeschen vom Helmholtz-Institut warnt vor einer pauschalen Ausdehnung der Evakuierungszone und rät stattdessen zu Vorsichtsmaßnahmen in Regionen, wo erhöhlte Radioaktivität gemessen, aber noch keine Evakuierung beschlossen wurde: "Man kann Jodtabletten geben, man kann regelmäßig und ausführlich die Strahlenbelastung messen, man kann die Bevölkerung darauf hinweisen, welche Nahrungsmittel zunächst nicht verzehrt werden sollten. Man kann das Trinkwasser überwachen, man kann die Bevölkerung auffordern, in den Häusern zu bleiben und sich oft zu waschen."
Aber auch solche Informationen würden der Bevölkerung in Städten wie Iitate vorenthalten, sagt Jan Beranak von Greenpeace. Die japanischen Behörden informierten nicht ausreichend, kritisiert die Umweltorganisation. "Wir haben zum Beispiel mit dem Bürgermeister gesprochen. Er bekommt so gut wie keine Daten, keine Warnungen, überhaupt nichts. Wir fordern die Behörden dringend auf, das Notwendige zu tun", so Beranak.
Greenpeace fordert Evakuierung
Auch Greenpeace plädiert dafür, die Evakuierungszone nach Strahlenbelastung und nicht pauschal zu erweitern. Um die Gesundheit und das Leben der Einwohner der vom Expertenteam besuchten Ortschaften zu schützen, sei es aber unbedingt notwendig, auch unbequeme Maßnahmen wie eine zusätzliche Evakuierung vorzunehmen, sagt Beranak: "Wir wollen keine allgemeine 40-Kilometer-Zone. Aber wir fordern die Zuständigen auf, innerhalb dieser 40 Kilometer-Zone verstärkt zu messen." Die Strahlenwerte in Iitate seien so hoch, dass diese Stadt als Evakuierungszone gelten müsste, erklärt Beranak.
Die wissenschaftlichen Messungen, die auch von den Behörden vor Ort bestätigt worden seinen, müssten ausschlaggebend sein, so Greenpeace. Man dürfe sich nicht an irgendwelchen Linien auf der Landkarte orientieren, da die radioaktiven Strahlen vor geometrischen Linien keinen Halt machten.
Autorin: Irene Quaile
Redaktion: Hans Sproß / Thomas Latschan