1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Streit um die Freie Rede an Deutschlands Unis

Sabine Kieselbach mit Agenturen
14. Juni 2024

Propalästinensische Proteste lösen einen Streit um die Meinungsfreiheit an deutschen Hochschulen aus. Lehrende kritisieren die Bundesbildungsministerin

https://p.dw.com/p/4h38Y
Menschen lagern mit Zelten auf dem Gelände der Freien Universität Berlin
Ein pro-palästinensisches Protestcamp an der Freien Universität Berlin - vor der Räumung durch die PolizeiBild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance

Für die liberale Bundesbildungsministerin ist die Freiheit ein hohes Gut. Sie sei, so Bettina Stark-Watzinger (FDP), das Fundament für alles: "Für die Art, wie wir in unserem Land leben, für unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat und unseren Wohlstand." Ein eindringliches Statement zum Wissenschaftsjahr 2024 – ausgesprochen wenige Tage vor den Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes (23. Mai 2024). Aber nun fordern mittlerweile mehr als 2.700 Wissenschaftler in einem offenen Brief den Rücktritt der Ministerin. Sie werfen ihr Machtmissbrauch und Einschüchterung vor, kurz: einen Angriff auf die zuvor so beschworene Freiheit, zumal die der Wissenschaft. Was ist passiert?

Anfang Mai war auf dem Campus der Freien Universität Berlin ein propalästinensisches Protestcamp von der Polizei geräumt worden. Studentinnen und Studenten hatten gegen das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen demonstriert und versucht, in Räume und Hörsäle der Universität vorzudringen. Einige hundert Dozentinnen und Dozenten wandten sich in einem Offenen Brief gegen die Räumung. Ohne sich inhaltlich mit den Demonstranten zu solidarisieren, sprachen sie sich für das Recht auf friedlichen Protest aus, das auch die Besetzung von Uni-Gelände einschließe.

Noch auf dem Boden der Verfassung?

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger
Unter Beschuss: Deutschlands Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger Bild: Britta Pedersen/dpa/picture-alliance

Die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger (FDP) zeigte sich darüber empört und stellte in einem Zeitungsinterview die Frage, ob sich die Unterzeichner dieses Briefes noch auf dem Boden des Grundgesetzes befänden. Und sie ging offenbar noch weiter. Wie jetzt bekannt wurde, wollte sie in ihrem Ministerium prüfen lassen, ob kritischen Hochschullehrenden Fördergelder gestrichen werden können.

Proteste an Unis: Pro-palästinensisch oder antisemitisch?

Der Aufschrei in Forschung und Politik ist groß – und auch die Verwunderung darüber, dass ausgerechnet eine liberale Politikerin das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in Frage stellt. Thomas Jarzombek, bildungs- und forschungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, fragt sich, "inwiefern die Ministerin selbst noch auf dem Boden des Grundgesetzes steht".  Der Präsident der Deutschen Hochschulrektorenkonferenz, Walter Rosenthal, erklärte, dass man ja unterschiedlicher Auffassung über die konkrete Meinungsäußerung sein könne. Aber dies mit der Frage der Förderwürdigkeit wissenschaftlicher Arbeit zu verknüpfen, sei eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit.

Ruf des Wissenschaftsstandorts in Gefahr?

In einem Protestschreiben, das mittlerweile mehr als 2.700 Professoren und Dozenten auch aus anderen Ländern unterzeichnet haben, wird Bettina Stark-Watzinger Einschüchterung vorgeworfen: "Repressive Überprüfungen von Wissenschaftler:innen, die ihre kritische Haltung zu politischen Entscheidungen öffentlich machen", heißt es darin, "sind aus autoritären Regimen bekannt." Allein der Anschein, dass die freie, gesellschaftliche Diskussion beschnitten werde, schade dem Ruf des Wissenschaftsstandorts Deutschland in der Welt.

Polizisten tragen Menschen aus dem Protestcamp auf einem Universitätsgelände
Polizisten räumen das Protestcamp auf dem Campus der Freien Universität Berlin Bild: Axel Schmidt/Getty Images

Unterzeichnet haben den Offenen Briefbekannte Intellektuelle wie der Demokratieforscher Wolfgang Merkel, die Philosophin Rahel Jaeggi und der Soziologe Hartmut Rosa. Mit dabei ist auch Susan Bernofsky, Übersetzerin und Professorin an der New Yorker Columbia University. Sie hatte bereits im April die Besetzung ihrer Universität durch Studenten erlebt – und die Räumung durch die Polizei kritisiert: "Ich bin entsetzt über die Versuche in Deutschland und den USA, pro-palästinensische Äußerungen zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen. Das ist eine Verletzung der akademischen Freiheit und des Rechts auf freie Meinungsäußerung", so Susan Bernofsky auf DW-Anfrage.

Eine Demonstrantin diskutiert mit einem Polizisten
Kampf um die Meinungsfreiheit an deutschen Unis: eine Demonstrantin diskutiert mit einem Polizisten Bild: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

US-amerikanische Medien würden die Studentenproteste immer wieder als antisemitisch diffamieren. Sie sei selbst Jüdin, sagt Bernofsky gegenüber der DW, diesen Vorwürfen müsse sie widersprechen.

Weltweite Proteste gegen den Gaza-Krieg

Proteste gegen den Gaza-Krieg zwischen Israel und der Hamasgibt es nicht nur an deutschen oder US-amerikanischen Universitäten. Seit dem Frühjahr finden Demonstrationen und auch Besetzungen an Universitäten weltweit statt - in Europa, in Australien, in Mexiko. Der Druck auf die Universitätsleitungen, diese Proteste einzudämmen, ist groß. Susan Bernofsky ist wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen alarmiert, dass die Politik die Kontrolle über die Universitäten gewinnen wolle.

Studierende an US-Unis protestieren mit Palästinensertüchern und Mundschutz
Pro-palästinensische Proteste gab es vor Wochen auch an US-amerikanischen Hochschulen. Sie wurden zumeist aufgelöstBild: Jae C. Hong/AP Photo/picture alliance

Die deutsche Bildungsministerin schwieg zunächst dazu. Ihre Pressestelle verwies auf die Stellungnahme der Staatssekretärin Sabine Döring auf der Plattform "X": Danach habe "die rechtliche Überprüfung des offenen Briefes ergeben, dass sein Inhalt von der Meinungsfreiheit gedeckt" sei. Damit erübrigten sich Diskussionen über formale Konsequenzen. "Der Entzug von Fördermitteln in Reaktion auf den offenen Brief stand in der Hausleitung nicht zur Debatte", schrieb das Ministerium. Dennoch zog die Ministerin am Wochenende erste Konsequenzen und entband ihre Staatssekretärin von ihren Aufgaben.

Dieser Artikel wurde am 17. Juni aktualisiert.