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`Monstrationen´ in Russland

2. Dezember 2011

Immer häufiger gibt es in russischen Städten scheinbar spontane Aktionen auf der Straße, die wie Theater oder Streetart wirken, so genannte Monstrationen. Doch es geht nicht nur um Kunst.

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Teilnehmer der Monstration im russischen Nowosibirsk (Foto: DW)
Teilnehmer einer "Monstration" im russischen NowosibirskBild: Anton Unitsyn

Menschen, die in Russland für politische oder gesellschaftliche Ziele auf die Straßen gehen, haben es schwer. Die Staatsmacht duldet nicht gern Kundgebungen und Proteste, schon gar nicht wenn sie ihr politisch missfallen. Aktionskünstlern scheinen weniger enge Grenzen gesetzt zu sein. Unter dem Schutzmantel der Kunst können Aktivisten in Russland heikle Themen aufgreifen oder kritische Statements abgeben, ohne gleich sofort als Extremisten ins Visier des Geheimdienstes FSB oder der Anti-Extremismus-Abteilung des Innenministeriums zu geraten.

Immer öfter kommt es deshalb in russischen Städten zu schillernden Aktionen, die wie Straßenkarneval oder spontanes Theater aussehen, aber zugleich politischen Protest ausdrücken. Während Polizei und Staatsschutz irritiert und manchmal nervös reagieren, zeigen die Menschen auf der Straße ihren Spaß und applaudieren spontan, wenn sie zufällig Zuschauer einer solchen Performance werden.

Mit Kostümen und absurden Parolen

Eine komische Verkleidung und Plakate mit absurden Parolen sind Kennzeichen einer "Monstration"(Foto: DW)
Lustige Verkleidungen und Plakate mit absurden Parolen sind Kennzeichen einer "Monstration"Bild: Anton Unitsyn

Artjom Loskutow aus Nowosibirsk in Sibirien gilt als einer der Wegbereiter dieser neuen Form des Kunstaktivismus. Weil Demonstrationen nicht erlaubt wurden, veranstalteten Loskutow und seine Freunde im Jahr 2004 die erste so genannte Monstration – ein Happening und Karnevalsumzug zugleich. Ungefähr 80 Jugendliche trugen phantasievolle Kostüme und Plakate mit den Worten: "Ich hab' krokodiliert, ich krokodiliere und ich werde krokodilieren!" oder "Alle Macht den Waschbären!" Die Staatsmacht sah darin eine nicht genehmigte Kundgebung und belegte die Organisatoren mit einer Geldstrafe. Die Aktivisten brachten die geforderte Summe in kleinen Münzen zu einer Bank. Die Bankmitarbeiter mussten das Geld in Anwesenheit von Journalisten mühsam zusammenrechnen. Die Aktion sorgte für Heiterkeit und fand Nachahmer.

Artjom Loskutow ist ein Initiator der neuen Straßenkunst (Foto: picture-alliance/dpa)
Artjom Loskutow ist einer der Initiatoren der neuen StraßenkunstBild: picture-alliance/dpa

Heute versammeln sich bei Monstrationen in Nowosibirsk und anderen russischen Städten regelmäßig bis zu mehreren tausend Menschen. Die letzte Monstration fand am 26. November in der Stadt Ufa statt. Das Thema war die bevorstehende Parlamentswahl. "Alle verstehen, dass die Wahlen und die große Politik nichts anderes sind als ein 'Nonsens-Theater'. Deswegen machen wir keine Demo, sondern eine 'Monstration' mit absurden Parolen", lautete der Internetaufruf der Veranstalter.

Phallus gegen den Geheimdienst

Eine andere auffallende Erscheinung der Straßenkunst in Russland ist die Aktionsgruppe "Woina" (Krieg). Wie viele Mitglieder die Gruppe hat, weiß niemand. Bekannt aber ist sie seit Jahren. Eine der populärsten Aktionen der Woina-Gruppe hieß "Der Penis in FSB-Gefangenschaft". Am 14. Juni 2010 malten die Künstler ein riesiges Phallussymbol auf die Liteiny-Zugbrücke in Sankt Petersburg. Als die Brücke hochgezogen wurde, stand plötzlich ein gigantisches Penis-Abbild dem FSB-Gebäude direkt gegenüber. Das sollte unmissverständlich signalisieren, der unbeliebte Sicherheitsdienst solle sich zum Teufel scheren. Die Staatsmacht reagierte trotz der Provokation gelassen. 2011 sollte der Woina-Gruppe dafür sogar der staatliche Kunstinnovationspreis verliehen werden. Aber die Künstler wollten den Preis nicht in Empfang nehmen, weil sie sich vom Staat "nicht korrumpieren lassen" würden, hieß es zur Begründung.

Eine andere Aktion der Woina-Gruppe löste im September 2010 hingegen einen Skandal aus. Die "Palastrevolution" wurde sie genannt. In der Nähe des Palastplatzes in Sankt Petersburg drehten Aktivisten Polizeiautos, in denen Polizisten schliefen, auf den Kopf. Kurz danach wurden zwei bekannte Mitglieder der Gruppe, Leonid Nikolajew und Oleg Worotnikow, verhaftet. Erst im Februar 2011 wurden sie frei gelassen, doch das Verfahren gegen die beiden wegen Beschädigung von Vermögensgegenständen dauert noch an.

Gratwanderung im Namen der Kunst

Die Aktion "Palastrevolution" stieß auch in der Öffentlichkeit auf Kritik. Der renommierte Menschenrechtler Juri Samodurow sagte dazu, wenn man einen Penis auf eine Brücke male, bliebe das im Rahmen der Kunst. Doch wenn man Polizeiautos umkippe, sei das eine Straftat, die unter Hinweis auf die Kunst nicht zu rechtfertigen sei. Immer wieder bewegen sich die Kunstaktivisten auf dem schmalen Grat zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Im November 2011 wurden in Moskau die Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel mehrmals von spontanen Performances bunt maskierter junger Frauen überrascht. Einmal tanzten und sangen sie wild auf dem Dach eines Omnibusses, ein anderes Mal auf dem Bahnsteig in der U-Bahn. Wenig später tauchte im Internet ein Musik-Video mit der Performance der feministischen Punk-Kunstgruppe mit dem Namen Pussy Riot auf.

Pussy Riot: Mit bunten Strickmasken und Punkmusik gegen Sexismus und Unterdrückung (Foto: DW)
Pussy Riot: Mit bunten Strickmasken und Punk gegen Sexismus und UnterdrückungBild: DW/Alexander Delfinov

Die fünf anonymen Aktivistinnen erklärten in dem Video, sie fänden den revolutionären Geist des Tahir-Platzes in Kairo großartig und wollten denselben Geist auf dem Roten Platz in Moskau erleben. Sie wollten außerdem "Frauen von sexistischem Druck befreien", der in Russland weit verbreitet sei. Pussy Riot nehmen ihre politischen Lieder technisch bewusst schlecht auf, damit kein Produzent sie kommerziell nutzen kann. Vor der Anti-Extremismus-Abteilung des Innenministeriums, sagen die jungen Frauen, hätten sie keine Angst. Ihre Konzerte würden sie weiter illegal und ohne Voranmeldung auf den Strassen veranstalten.

Überwindung der gesellschaftlichen Apathie?

Beobachter hoffen, dass diese Aktionen das politische Klima in Russland verändern. Die weitverbreitete gesellschaftliche Apathie könne so vielleicht überwunden werden, meint die Kunstexpertin und Kuratorin Tatiana Volkowa. Die Aktivisten könnten mit ihren provokanten Aktionen russische Bürger anspornen, ihre politische Haltung offen auszusprechen und an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen. "Es gibt immer mehr solcher Künstler wie Loskutow, Woina und Pussy Riot. Sie sind miteinander vernetzt und agieren oft gemeinsam", sagt Volkowa.

Auch die international anerkannte Kunstkritikerin und Kuratorin Jekaterina Degot aus Moskau meint, es gebe keine Grenze zwischen Kunst und Politik. Wenn Aktivisten ihre Aktionen als Kunst präsentierten, solle man nicht darüber diskutieren. Diese Kunst könne gut oder schlecht sein. Sie biete aber in jedem Fall eine Möglichkeit, den politischen Protest zu legitimieren. Wenn Russland seine Gesetze noch weiter verschärfe, könnte die kunstaktivistische Szene sogar noch größer werden, glaubt Degot.

Autor: Alexander Delphinov

Redaktion: Bernd Johann