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Stimmen aus der Hölle

Hans Pfeifer29. Oktober 2015

Im stalinistischen Lagersystem Gulag waren 20 Millionen Menschen inhaftiert. Fast vier Millionen starben. Ein Berliner Archiv dokumentiert die Schicksale der Opfer des kommunistischen Terrors.

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Themenbilder Gulag
Das Netz der Arbeitslager durchzog die gesamte Sowjetunion. Die Häftlinge waren Hunger, Willkür und Folter ausgeliefert.Bild: picture-alliance/akg

Sie kommen in der Pause. Zwei Mann. Der Schulleiter und ein Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit. Am 22. November 1950 wird Horst A. Henning auf dem Schulhof seines Gymnasiums in Burg bei Magdeburg verhaftet. "Ihr Vater hat Sie der Spionage beschuldigt", erklärt ihm kurz darauf ein Major des berüchtigten russischen Geheimdienstes, NKWD. Hennig ist damals sechzehn Jahre alt. Kurz darauf verschwindet er für Jahre in sowjetischer Lagerhaft.

Grausamkeiten des Lagerlebens

"In der Lagerhierarchie war ich ganz unten. Ich war der Deutsche", erinnert er sich Jahrzehnte später, inzwischen 81 Jahre alt. Im Lager Nummer 11 in der Region Mordwinien kommt er in eine Baracke mit kriminellen Jugendlichen. Sie sind grausam. Aber auch seine Rettung. Denn er hat Glück und steht unter dem Schutz ihres Anführers. Das Leben ist roh. Er lernt in den vier Jahren der Haft, Mitgefühl auszublenden. "Zum Beispiel, wenn um die Ohren der abtrünnigen Kriminellen gespielt wurde. Ich habe nur gehofft, dass ich sie nicht abschneiden muss."

Jahrzehnte später erzählt Horst A. Hennig seine Erinnerungen dem Historiker Meinhard Stark. Der sammelt die Geschichten der Lagerinsassen. Es sind bereits 1.200 Stunden Tonbandmaterial und 46.000 Blatt Dokumente. Dieses einmalige Archiv hat er im Oktober 2015 der Berliner Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übergeben. "Das wichtigste an diesem Archiv ist, dass es die Erinnerung an die Opfer bewahrt", sagt Stark.

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Horst A. Hennig ist von 1951 bis 1955 im sowjetischen Lager inhaftiert: "Die Zeit hat mich verroht."Bild: H.Pfeifer DW

Erinnerungen gegen das Vergessen

Die vielen einzelnen Stimmen ergeben zusammen ein Bild des Terrors. Und wer sich die Bänder anhört, den lassen die Stimmen nicht wieder los: von Horst A. Hennig. Oder von Frieda Mayer Melikova, die sich erinnert: "Als ich verhaftet wurde, war es ein Schlag aus heiterem Himmel. Mein Kind schlief. Ich habe es nicht geweckt." Oder aber Elvira Logutko: Sie ist fünf Jahre alt, als der NKWD kommt, um ihre Mutter abzuholen. "Ich habe Angst vor dem Klopfen", erzählt sie, "bis jetzt noch. Da zuckt etwas in mir zusammen. Ich weiß nicht, warum sie nie geklingelt haben."

Mit dem Archiv will die Stiftung Aufarbeitung, die im Auftrag des Deutschen Bundestages gegründet wurde, den Opfern des Stalinismus eine Stimme geben. Für Geschäftsführerin Anna Kaminsky bedeutet die Sammlung, "dass wir einen sehr weißen Fleck der europäischen Erinnerungskultur schließen können". Es gibt nicht viele solcher Archive über den stalinistischen Terror zwischen 1930 und den 50er Jahren. Und die meisten Akten und Dokumente liegen in russischen Archiven und sind bis heute unter Verschluss.

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Zeugnisse von 277 Häftlingen des Gulag: Archiv der Stiftung Aufarbeitung in Berlin.Bild: H.Pfeifer DW

Horst A. Hennig hat später erfahren, wie es zu seiner Verhaftung kam. Die Beschuldigung der Spionage machte sein Vater unter Folter. "Das Geständnis haben sie aus meinem Vater herausgeprügelt", erzählt er. Hennig sieht ihn noch einmal während des Prozesses. "Er war nur noch ein Wrack, hatte keine Zähne mehr." Erst nach der Zeit im Gulag erfährt er von dessen Hinrichtung in Moskau. Auch seine Mutter kommt in Lagerhaft. Die Freilassung dann 1955: Beide werden in die Bundesrepublik ausgeliefert und können sich ein normales Leben aufbauen.

Nach dem Fall der Mauer 1989 besucht Hennig seine alte Heimatstadt in Sachsen-Anhalt. Alte Bekannte erzählen ihm, dass Lehrer und Mitschüler verboten wurde, über die Verschleppung zu reden. "Ich habe erfahren, dass ich in meiner Schule als nicht existent geführt wurde." Mit den Dokumenten des Gulag-Archivs der Stiftung Aufarbeitung wird den Opfern ein Stück ihrer Existenz zurückgegeben.