Lünen trauert um getöteten Schüler
24. Januar 2018Stille. Eine Minute lang. Nur das Läuten einer fernen Kirchenglocke ist zu hören, als die 1000 Schüler und Lehrer der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule am Mittwoch um 12 Uhr auf ihrem Schulhof trauern. Auch an den anderen Schulen und im Rathaus der westfälischen Kleinstadt halten die Menschen für 60 Sekunden inne. Und versuchen, das schier Unbegreifliche zu verstehen: dass an einer ganz normalen Schule in Deutschland ein Schüler einen anderen mit einem Messer tötet.
Entsetzliche Einzeltat
"Wir sind jetzt über 24 Stunden in einem emotionalen Ausnahmezustand", sagt Reinhold Bauhus. Der Schuldirektor der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule habe die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht, weil er sich seit der Tat immer wieder dieselbe Fragen stellt: "Wie kann so etwas an meiner Schule passieren? Warum hat er das gemacht?" Antworten hat der Vater von drei Kindern noch nicht gefunden, auch wenn er von einer "entsetzlichen Einzeltat" ausgeht.
Zunächst muss die schwierige Rückkehr in den Alltag gemeistert werden. Zusammen mit dem Kollegium trifft Bauhus die Entscheidung, die Schule am Tag nach der Tat um 8.15 Uhr zu öffnen. "Die Schüler brauchen jetzt eine Struktur, so schwer es auch fällt." Sie sollen mit der Hilfe von 20 Seelsorgern das Geschehene aufarbeiten können. Dem Schuldirektor ist klar, dass dies ein langer Prozess sein wird: "Wir fahren momentan auf Sicht. Und werden dann von Tag zu Tag entscheiden."
Attacke nach verbaler Provokation
"Wir sind am Dienstag kurz nach 8 Uhr alarmiert worden, dass es an der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule eine Messerattacke gegeben hat“, erklärt Polizei-Sprecherin Nina Vogt vor dem Schulgelände. Die Tat kann schnell rekonstruiert werden: Der 15-Jährige Beschuldigte hat zusammen mit seiner Mutter einen Gesprächstermin bei einer Sozialarbeiterin der Schule. Der polizeibekannte Deutsche mit kasachischen Wurzeln gilt als aggressiv und besuchte zwischenzeitlich eine andere Lehranstalt. Beim Gespräch soll es darum gehen, seine Rückkehr zur Käthe-Kollwitz-Gesamtschule zu organisieren.
"Beim Warten auf dieses Gespräch ist er offenbar auf das 14-Jährige Opfer getroffen, von dem er sich nach den ersten Ermittlungen provoziert fühlte", erläutert Vogt. Die Provokation nach Angaben des mutmaßlichen Täters: mehrfache provozierende Blicke auf seine Mutter. Daraufhin sticht er seinen Mitschüler mit einem Messer in den Hals und flüchtet, lässt sich aber kurze Zeit später widerstandslos festnehmen. Gegen ihn wird Haftbefehl wegen Mordes erlassen.
Baustelle Personal an Schulen
"Der Tag für uns heute war sehr anstrengend. Das Bedürfnis der Schüler war riesig, jemanden zum Reden zu haben oder einfach nur zuzuhören", sagt Willi Wohlfeil. Direkt am Morgen hat er seinen Dienst als Seelsorger begonnen. Der Pfarrer ist Koordinator der Notfallseelsorge in Lünen und Umgebung und hat mit seinem Team Räume in der Gesamtschule bezogen. Bei den Gesprächen komme immer sehr viel Persönliches an die Oberfläche, das mit der akuten Situation direkt nichts zu tun hat: "Zum Beispiel, dass die Mutter oder der Vater gestorben sind und dass die Schüler damit einfach nicht zurecht kommen."
Heutzutage merke er bei vielen Gesprächen mit Jugendlichen einfach eine "Grundbelastung". Doch wie sollen die Schulen damit umgehen? Wohlfeil appelliert an die Politik: "Es muss mehr Personal an Schulen tätig sein. Menschen wie zum Beispiel Psychologen, die sich den seelischen Fragen der Schüler annehmen."
Wirksame Prävention gegen Schulgewalt
Nach Lünen rückt das Thema Gewalt in Schulen in Deutschland wieder in den Mittelpunkt. "Meistens haben diese Jugendlichen in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen gemacht und eine relativ niedrige Selbstkontrolle", versucht Professor Vincenz Leuschner die Tat in Lünen zu erklären. Der Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin hat zum Thema "Gewalt an Schulen“ geforscht. Das Muster sei immer gleich: Waffen wie Messer seien im familiären Umfeld zugänglich und die Taten entstünden dann einfach "aus der Impulsivität eines persönlichen Konflikts".
Insgesamt hat die körperliche Gewalt an deutschen Schulen in den letzten 20 Jahren abgenommen. Dafür nimmt aber das Cybermobbing zu: Schüler stellen ihre Mitschüler in den sozialen Netzwerken bloß. "Gefordert sind in erster Linie bei allen Gewalttaten die Familie und das familiäre Umfeld“, sagt Leuschner. Zur Prävention von Gewalt brauche es aber auch Lehrer, welche der Vermittlung sozialer Kompetenzen genau so viel Raum geben wie der Vermittlung von Wissen. Diese Zeit müssten sie dann auch bekommen. Leuschners Forderung an die Bildungspolitik: "In der Lehrerausbildung muss ein stärkerer Schwerpunkt auf Fragen des sozialen Umgangs unter Schülern gelegt werden."