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Frankreich vor Atomaussstieg?

Gero Rueter1. Juli 2015

Die traditionell starke französische Atomindustrie steckt in einer tiefen Krise. Die Regierung will viel weniger Atomstrom und dafür erneuerbare Energien. Frankreichs Energiewirtschaft steht vor einem gewaltigen Umbruch.

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Kernkraftwerk Tricastin ARCHIVBILD 2011
Bild: Michel Euler/AFP/Getty Images

Frankreichs Atombranche war ein halbes Jahrhundert lang so etwas wie der Stolz der Nation: Bis heute decken die 58 Atommeiler rund drei Viertel des Strombedarfs des Landes.

Der Atomkonzern AREVA war einige Jahre eines der größten Unternehmen der weltweiten Atombranche. Der Abbau von Uran, die Herstellung von Brennstäben und der Bau von Reaktoren brachten dem Konzern viel Geld ein.

Atom-Zukunft ungewiss

Doch im vergangenen Jahr verzeichnete AREVA einen Verlust von fünf Milliarden Euro. Seit sieben Jahren hat der Konzern kein einziges Atomkraftwerk mehr verkauft. Vor allem seit der Atomkatastrophe Fukushima scheinen die Kunden endgültig wegzubleiben. Hinzu kommt: Der Atomreaktor der dritten Generation, der sogenannte EPR (European Pressurized Water Reactor) galt als sichere Zukunftstechnologie und als Flaggschiff der französischen Atombranche. Nun gibt es bei den Druckwasserreaktoren zahlreiche Probleme.

Frankreich Kernkraftwerk Flamanville Baustelle (Foto: CHARLY TRIBALLEAU/AFP/Getty Images)
Steigende Kosten, Bauverzögerungen - der EPR in Flamanville.Bild: Getty Images/AFP/C. Triballeau

Zukunftsreaktor wird zum Desaster

Die Fertigstellung eines EPR in Finnland verzögert sich bisher um neun Jahre und die vom Reaktor in Frankreich um mindestens fünf. Außerdem sind die Baukosten pro Reaktor von drei auf über acht Milliarden Euro explodiert. Möglicherweise gibt es auch große Probleme mit der Sicherheit: Mitte April wurden Schwachstellen im Stahldeckel des Reaktors in Flamanville bekannt, die unter Belastung zu Rissen führen könnten. Die französische Atomsicherheitsbehörde (ASN) bezeichnete die Situation als "sehr ernst" und fordert bis Oktober einen umfassenden Bericht.
Sollte die Aufsichtsbehörde den Druckbehälter als nicht sicher erklären, wäre die Katastrophe für AREVA perfekt. Ein Austausch würde nach Einschätzung von Experten mehre Jahre dauern und zusätzlich Hunderte Millionen Euro kosten.

Für Yannick Rousselet, Atomenergie-Experte bei Greenpeace, wären weitere Verzögerungen nur noch der Gnadenstroß. Denn bisher wurde weltweit kein einziger EPR fertiggestellt und neben zwei europäischen Reaktoren, gibt es lediglich zwei Projekte in China. "Noch vor wenigen Jahren hat uns AREVA versprochen, sie würden in der Welt zwei bis drei EPR-Reaktoren pro Jahr fertigstellen. Die Realität heute ist: der EPR ist als industrielles Projekt tot", so Rousselet.

Stromkonzern EDF soll AREVA retten

AREVA gehört zu 86,5 Prozent dem Staat. EDF, der weltweit zweitgrößte Stromversorger und einer der größten Nuklearstromproduzenten, ist zu 84,5 Prozent in Staatsbesitz.

Areva Schild an Zentrale (Foto: CHARLY TRIBALLEAU/AFP/Getty Images)
AREVA wird aufgespalten. Ohne Hilfe droht der KonkursBild: Charly Triballeau/AFP/Getty Images

Auf einer Krisensitzung bei Präsident Francois Hollande Anfang Juni wurde beschlossen, dass EDF in das Reaktorgeschäft von AREVA einsteigen soll. "Ohne diese Maßnahme würde der Atomkonzern AREVA dieses Jahr nicht überleben", kommentiert Mycle Schneider den Rettungsschritt gegenüber der DW. Schneider ist Herausgeber des World Nuclear Industry Statusreport. Die Details eines neuen, gemeinsamen Unternehmens werden noch geklärt. Klar ist aber: AREVA wird aufgespalten.

Mit der Hilfe für AREVA ist nach Angaben von Schneider das Problem für Frankreichs Atomwirtschaft jedoch nicht gelöst. EDF sei zwar wesentlich größer als ARVEVA und habe einen Jahresumsatz von 70 Milliarden Euro, "zugleich aber auch 34 Milliarden Euro schulden". Schneider sieht den Schuldenberg als ein zentrales Problem. Nach Angaben des Pariser Rechnungshofs kommen zudem für den Rückbau und die Entsorgung von Atommüll noch rund 50 Milliarden Euro an Kosten hinzu.

Von Atomkraft zu erneuerbaren Energien?

Neue Töne aus Politik und Energiewirtschaft sorgen für große Aufmerksamkeit. Marc Bussieras, Chef des EDF Strategie-Departments für ökonomische Studien, zeigt sich offen für eine Energiegewinnung ohne Atom. EDF verfolge vor allem eine kostengünstige Strategie sagt er gegenüber der DW. "Heute ist es in Frankreich aus ökonomischen Gründen interessant, erneuerbare Energien zu installieren."

Marc Bussieras
Marc Bussieras von EDFBild: DW

Mit einem Gesetz zur Energiewende will die französische Regierung jetzt zudem den Umbau vorantreiben und hofft zugleich auf einen positiven Job-Nebeneffekt. Das Gesetz, das nach der Sommerpause in der Nationalversammlung verabschiedet werden soll, sieht vor, dass bis 2025 der Anteil von Atomkraft am Strommix von heute 75 Prozent auf 50 sinkt. Der fehlende Stromanteil soll vor allem durch Wind- und Solarkraft gedeckt werden.

Laut einer Studie im Auftrag der staatlichen Umweltagentur (ADEME) wäre bis 2050 sogar der komplette Ausstieg aus der Atomkraft und der 100-prozentige Umstieg auf erneuerbare Energien für Frankreich möglich und wirtschaftlich.

Sven Rösner vom Deutsch-französischen Büro für erneuerbare Energien in Paris beobachtet einen kulturellen Wandel in der Bevölkerung, Politik und Industrie. "Vor zwei Jahren sagte ein großes politisches Lager, dass Atomenergie das einzig Wahre sei und zudem sauber, günstig und zuverlässig. Und dieses Jahr sagen die gleichen Personen, dass man alle Lösungen zulassen sollte."

Mycle Schneider, Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report, sieht den Mentalitätswechsel bei der Atomwirtschaft nicht. So sei zum Beispiel die Erkenntnis, dass der Neubau von Atomkraftwerken keine Zukunft mehr habe "in den Köpfen der Konzernleitung von AREVA nicht angekommen".

Schneider sieht die Chancen für die Atomwirtschaft vor allem in einem ganz neuen Bereich. "Die Zukunft liegt in einem unglaublichen Markt von Abriss und Atommüllbewältigung. Der Neubau wird die Ausnahme bleiben."