Gerhard Steidl: "Es ist ein Vermächtnis"
12. Juni 2015
DW: Selbst für Sie als erfahrenen Verleger sind das zur Zeit sicher aufregende und arbeitsintensive Wochen. Am 12. Juni wurde das neue Grass-Archiv in Göttingen eröffnet – in einem der ältesten Fachwerkhäuser Deutschlands. Wo erreichen wir Sie gerade – in der hauseigenen Druckerei oder auf der Baustelle?
Gerhard Steidl: Im Nebengebäude der Baustelle. Mein Verlag besteht ja aus verschiedenen Häusern: In zwei Häusern sind Lektorat, Bildbearbeitung, Gestaltung und Druckerei untergebracht, in einem anderen eine Werkstatt für hochwertige Ausstellungsdrucke. In anderen wohnen die Künstler, während sie bei uns in Göttingen sind. Im Grunde brauche ich immer nur zehn Meter Treppe rauf, Treppe runter zu gehen, von einer Tür zur anderen. Das ist ein wunderbarer Luxus, ich habe Handwerker, Drucker und die anderen Kreativen praktisch unter einem Dach. Und eines dieser Häuser ist jetzt das Grass-Archiv.
Das erste Haus für den Verlag habe ich 1970 gekauft. Dann ging es immer so weiter, mittlerweile hat sich eine Art Quartier entwickelt. In der Mitte ist eine große Grünfläche, drum herum sind die Häuser, in denen wir arbeiten und unsere Bücher gestalten. Die Amerikaner nennen das liebevoll "Steidlville". Ich habe immer darauf geachtet, dass wir die kreative Arbeit im Stadtzentrum halten, weil hier eine wunderbare Atmosphäre herrscht. Wenn man auf die Straße geht, sieht man viele junge Menschen aus aller Welt. 30.000 Menschen studieren in Göttingen, und das ist sehr anregend. Diese Atmosphäre einer kleineren Universitätsstadt ist für unsere Verlagsarbeit ganz wichtig. Mir ist nie in den Sinn gekommen, mich im Industriegebiet anzusiedeln; das würde mich anöden.
Was wird im Grass-Archiv aufbewahrt?
Dort lagern alle Archivalien von Grass, die in mehr als 50 Jahren Verlagsarbeit mit ihm angefallen sind. Als wir 1993 die Weltrechte am Werk von Günter Grass übernommen haben, wurden uns von seinem vorherigen Verlag, Luchterhand, auch deren Grass-Archivalien übergeben. Das heißt: Vom ersten, 1956 erschienenen Buch "Die Vorzüge der Windhühner" bis heute – also bis zu seinem Todestag (am 13.4.2015) – ist alles erhalten, was er jemals geschaffen hat.
Inwieweit ist das Archiv denn auch eine Art Museum geworden?
Das war von Anfang an so gedacht. Es gibt ein Vorderhaus des Archivs, das 1310 erbaut wurde und immer von einfachen Arbeitern, früher vornehmlich Leinewebern, bewohnt war, niemals von wohlhabenden Personen. All das kann man im Göttinger Stadtarchiv nachlesen, es gibt eine lückenlose Dokumentation von 1310 bis heute. Und da es diesen Menschen immer an Geld mangelte, ist das Fachwerkhaus niemals aufwendig umgebaut worden. Es hat noch die Struktur von damals, und deshalb haben wir uns entschlossen, das Haus selbst als Museum einzurichten.
Wir haben behutsam konserviert, nichts verputzt, nichts geglättet. Wenn man an den Wänden entlang geht, kann man noch die unterschiedlichen Steinarten, die im Laufe der Jahrhunderte verwendet wurden, sehen. Auch Wandfarben, Tapeten, Feuerstellen usw.; diese historischen Fundstellen sind mit Hilfe der Stadtarchäologie beschriftet worden. Wenn man sich in diesem Gebäude aufhält, atmet man 700 Jahre Architektur- und Baugeschichte.
Ist das unter konservatorischen Gesichtspunkten gut für die Bücher und Archivalien?
Das alte Haus ist nur das Entree für einen Neubau, der Raum für Ausstellungen rund um das Werk von Günter Grass bietet, auch rund um das Thema Papier und Bücher. Und im Untergeschoss sind dann alle Archivalien von Grass untergebracht. Der moderne Anbau wurde innen mit einem starken Lehmputz versehen, der wegen der perfekten Feuchteregulierung klimatisch günstig für die Archivalien ist. Zudem installieren wir natürlich Klimatechnik.
Günter Grass war ja auch Künstler, Grafiker und Handwerker mit großer Liebe zum Material. Hätte es ihm wohl gefallen, seine Werke in so einem historischen Gemäuer präsentiert zu sehen?
Er hat das Haus gekannt und sehr gemocht. 2012 haben wir seinen 85. Geburtstag dort auf der Baustelle gefeiert. Ich war noch drei Tage vor seinem Tod bei ihm. Wir haben noch das neue Buch fertig gemacht und verabredet, dass er zum ersten Mal am 12. Juni 2015 hier im Grass Archiv daraus liest. Dazu sollte eine Ausstellung von Zeichnungen, die er zum Buch gemacht hat, laufen. Ich habe ihm natürlich detailliert gezeigt, was wir ausstellen wollen. Er hat noch Ideen eingebracht, und genauso werden wir das verwirklichen.
Das letzte Buch von Grass werden Sie im August 2015 im Steidl Verlag herausbringen. "Vonne Endlichkait" heißt der ungewöhnliche Titel, im Dialekt seiner kaschubischen Heimat. Ist das ein klassischer Grass geworden?
Es ist wirklich ein Vermächtnis von Grass. Weil er in diesem Buch all das, was er sein ganzes Leben lang gemacht und geliebt hat, zusammenfügt hat. Grass letztes Buch besteht aus längeren und kürzeren Prosatexten, Gedichten und Zeichnungen. Er selbst hat es mir gegenüber als „Experiment“ bezeichnet, weil sich die Texte in einen Dialog begeben. Eine Zeile, ein Satz, ein Wort, ein Motiv eines Prosatexts setzt sich fort in einem Gedicht, wird variiert, zurückgespiegelt in einen anderen Prosatext oder eine Zeichnung und umgekehrt. Das "Gespräch" der Gattungen entspricht den Begabungen des Zeichners und Schriftstellers. Hier ist Günter Grass ganz bei sich selbst. Dazu hat er die Buchgestaltung selbst gemacht, von der Typographie bis zum Umschlag.
Hat Günter Grass den Produktionsprozess seiner Bücher immer so intensiv begleitet? Er war ja kein Schriftsteller, der nur ein Manuskript abgegeben hat.
Grass hat im Grunde vom ersten Buch an darauf bestanden, das geht aus dem Briefwechsel mit dem Luchterhand Verlag hervor, dass er die Herstellung begleiten und den Umschlag gestalteten darf. Bei Luchterhand ging das dann irgendwann nicht mehr, weil sie keine eigene Druckerei mehr hatten. Das war vermutlich einer der Gründe, warum er sich 1993 entschieden hat, zum Steidl Verlag zu gehen. Wir haben nach wie vor die gesamte Produktionstechnik hier im Haus.
Für jedes Buch ist Grass in den Verlag gekommen. Und wir haben gemeinsam mit den Buchgestaltern die Schrifttype ausgewählt, die passte – sei es nun eine "Baskerville", eine "Times" oder eine "Garamond". Er war da ausgesprochen gut informiert. Wir haben die Schriftgrößen festgelegt, den Umbruch, den Satzspiegel, das Papier ausgewählt, den Andruck begutachtet, Einband, Leinen, Lesebändchen, Schutzumschlag, wirklich jedes Detail. Also ich kann wirklich sagen: Als Buchhersteller sind wir uns auf Augenhöhe begegnet. Er hätte den Laden auch übernehmen können, er hätte es genauso gut gemacht wie ich.
Herr Steidl, Sie gelten als einer der letzten Verleger der alten Schule, der seine Drucker noch mit Namen kennt. Wie war die praktische Zusammenarbeit mit jemand wie Grass, der ebenso leidenschaftlich Bücher machen wollte wie Sie? Sind da manchmal die Fetzen geflogen?
Ja, natürlich haben wir auch gerungen. Aber ich habe das immer als Pingpong empfunden: Grass hat eine Idee, ich denke zehn Sekunden darüber nach, entwickle die Idee weiter, sage ihm: Was hältst du davon? Der Ball geht zurück zu ihm, er denkt zehn Sekunden nach, entwickelt seinerseits die Idee weiter, gibt sie an mich zurück. Pingpong, Pingpong und nach 15 Minuten hat man das beste Ergebnis. Ich verstehe mich ja als Verleger, nicht als Künstler. Ich bin ein Techniker, der den Künstlern hilft, ihre Ideen umzusetzen. Ich sperre die Ohren auf und die Augen, höre was sie wollen – und mach dann ein Angebot. Ich gebe mir immer sehr viel Mühe, die Künstler auszubilden, damit sie verstehen und nachvollziehen können, was ich da anbiete. Und dass Grass ein erstklassiger Buchhersteller geworden ist im Laufe der Jahre, darauf bin ich sehr stolz.
Das Interview führte Heike Mund.