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Stalin - Debatte über einen Gewaltherrscher

Cornelia Rabitz12. Juli 2012

Nahezu sechs Jahrzehnte nach dem Tod von Diktator Stalin ist eine neue Debatte in Deutschland darüber entbrannt, wie man sein Regime bewerten sollte. Auslöser ist das jüngste Buch eines bekannten Osteuropahistorikers.

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Das Foto zeigt Joseph Stalin 1879-1953 .Mono Print
Joseph StalinBild: picture-alliance/United Archives/TopFoto

Jörg Baberowski, der für so viel Diskussionsstoff sorgt, ist kompromisslos in seiner Analyse: Stalin war ein passionierter Gewalttäter und mitleidloser Psychopath, ein Despot, der nach Quoten töten ließ und niemanden verschonte. Der in seiner unmittelbaren Umgebung Angst, Schrecken und Misstrauen säte und eine ganze Gesellschaft einer Kultur der Zerstörung und des Terrors unterwarf. In seinem aufrüttelnden Buch belegt Baberowski diese These auf nahezu 600 Seiten und mit einer Fülle von Quellen. "Ich habe kein Buch über die Sowjetunion oder den Stalinismus geschrieben, sondern eines über exzessive Gewalt und was sie mit den Menschen macht", sagt der Autor und Professor für die Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität in einer seiner viel besuchten Lesungen.

Imperium der Paranoia

Der Mann, der die Sowjetunion von 1927 bis zu seinem Tod 1953 zu einem "Imperium der Paranoia" machte, ist für Baberowski ein Mörder, dem es Freude bereitete, zu zerstören und zu verletzen. Ein "passionierter Gewalttäter", dessen Herrschaft von grenzenlosem Terror gekennzeichnet war und der zwischen Freunden und Feinden nicht mehr unterschied. Politische oder wirtschaftliche Erfolge, positive Meldungen jedweder Art kann es in einem solchen Imperium, das dem maßlosen Töten verfallen ist, prinzipiell nicht geben, sondern allein dies: Hungersnöte als Ergebnis einer völlig verfehlten Wirtschaftspolitik, Vertreibungen, Enteignungen, Ressourcenverschwendung, die Zerstörung der bäuerlichen Kultur, die totale Unterwerfung von Partei und staatlichen Institutionen unter den Willen des Diktators, Terror gegen die Bevölkerung, Denunziation, Folter, erpresste "Geständnisse", Schauprozesse – und auch die bedingungslose Loyalität der Funktionäre: "Stalin musste schließlich gar nichts mehr schreiben und anordnen. Jeder wusste ohnehin, was er tun musste, um den Despoten zufrieden zu stellen. Und niemand wollte Opfer werden", erläutert Jörg Baberowski vor seinem Publikum in Köln.

In der Kategorie Sachbuch/Essayistik wird Jörg Baberowski für sein Buch "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt" (C.H.Beck) am Donnerstag (15.03.2012) in Leipzig mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2011 gewürdigt. V Foto: Hendrik Schmidt dpa/lsn +++(c) dpa - Bildfunk+++
Preisgekrönt: Autor Jörg Baberowski wurde auf der Leipziger Buchmesse 2012 für sein Buch ausgezeichnetBild: picture-alliance/dpa

System der Angst

Mit einem Federstrich schickte Stalin unschuldige Menschen in den Tod, manchmal ein paar tausend an einem einzigen Tag. Gleichzeitig signalisierte er seiner engsten Umgebung, dass es jeden treffen kann. "Er ließ einfach mal einen umbringen – und er zeigte den anderen damit, was passiert, wenn man sich nicht unterwirft." Auch für die Männer, die nahe am Machtzentrum waren, gab es also keine Sicherheit. "Heute Minister – morgen dem Tod geweiht, das war die grausige Unberechenbarkeit des Systems", sagt der Historiker. Verfolgt wurden nicht nur die angeblichen Feinde des Staates, sondern auch ihre Angehörigen. Man nahm sie als Geiseln, um Aussagen von den Verhafteten zu erzwingen: "Auch nach dem Tod des Opfers hörte das Leiden der Ehefrauen, Kinder und Familienangehörigen nicht auf." Sie wurden aus ihren Wohnungen verjagt, in Lager deportiert, in staatliche Kinderheime eingewiesen. Das Leben der Vielen wurde von wenigen zur Hölle gemacht. Freilich, so Baberowskis Befund, es hat auch Profiteure gegeben: die technische Elite, einige Künstler, Menschen, die sich in der neuen Zeit arrangierten.

Georgische Stalin-Anhänger tragen das Porträt ihres Idols. Dec. 21, 2011. (Foto:Shakh Aivazov/AP/dapd).
In unerschütterlicher Treue: Georgische Stalin-Anhänger tragen das Porträt ihres IdolsBild: dapd

Stalins Erben

Eine Aufarbeitung der Stalinzeit hat es weder in der Sowjetunion, noch im heutigen Russland gegeben. Jörg Baberowskis Buch wird zur Zeit ins Russische übersetzt. Der Autor ist skeptisch – viele Leser werde es wohl in Russland nicht finden. Dort , wie auch in Georgien, herrsche in manchen Kreisen wieder eine regelrechte Stalin-Euphorie – der Historiker kann sie verstehen, verurteilen möchte er sie nicht. "Die Menschen, die Stalin heute bejubeln, bejubeln ein untergegangenes Imperium und erinnern sich nicht an das Elend der Stalinzeit", meint er. Man wolle in Russland wieder stolz sein auf gewonnene Kriege, daher werde immer nur die ruhmreiche Rolle des großen Feldherrn Stalin besungen. Die russische Gesellschaft könne friedlichen Reformen wenig Positives abgewinnen. Veränderung aber könne nicht von außen kommen.

Die Debatte

Für seine gründliche Forschung und die spannende Aufbereitung erhält Baberowski viel Lob. Der Osteuropahistoriker Gerhard Simon charakterisiert das Buch als "zupackend, einprägsam und unbedingt notwendig". Es bilde ein Gegengewicht zu der immer noch stark auf den Nationalsozialismus konzentrierten europäischen Erinnerungskultur. Andere Wissenschaftler werfen Baberowski indes Emotionalität und fehlende Distanz zu seinem Forschungsgegenstand vor. Bezweifelt wird die These vom Alleinherrscher, der alle politischen Fäden spinnt. Stalin sein kein "genetisch verunglückter Triebtäter" gewesen, sondern ein Produkt der Umstände, meint etwa der Bochumer Historiker Stefan Plaggenberg in einem Aufsatz. Benno Enker, Osteuropahistoriker in Sankt Gallen, stört eine "Gleichsetzung der terroristischen Diktaturen" des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Er sieht darin eine "Verwischung der Begriffe". Christoph Dieckmann vom Fritz-Bauer-Institut bemängelt, die Wellen Stalinscher Gewalt kämen in Baberowskis Studie „gleichsam naturwüchsig“ daher und würden lediglich als "Launen Stalins" erklärt.

Jörg Baberowski liest aus seinem Stalinbuch - MP3-Mono

Neue Blickwinkel

Diese Aufsätze sind ausführlich nachzulesen in der neuen Ausgabe der Zeitschrift "Osteuropa", die außerdem noch zusätzliches Material zum Thema präsentiert. So etwa einen hoch interessanten Einblick in die Arbeit von "Stalins Stimme", dem Dolmetscher Vladimir Pavlov. Oder Erläuterungen zum Machtzirkel des Despoten, jenem Kreis von Männern, die Stalins Politik umsetzten. So unterschiedlich die Erklärungsansätze auch sind, zeigen sie doch eines: Auch mehr als sechs Jahrzehnte nach seinem Tod lässt die historische Figur Stalin niemanden unberührt. Und das gilt für die Verfasser der neuen Bücher und Aufsätze ebenso wie für ihre Leser.

Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt", 606 Seiten, C.H. Beck Verlag, € 29,95, ISBN 978-3-406-63254-9

Das neue Heft der Zeitschrift "Osteuropa" heißt: "Im Profil. Stalin, der Stalinismus und die Gewalt", herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, 160 Seiten, € 10.