Die Quote soll es richten
12. Mai 2011Im Berlin-Moabit lockt dieser Tage die Frühlingssonne die Leute auf die Straße. Vor den steinernen Bänken am Rathaus haben Mütter ihre Kinderwagen geparkt, Cafés und Imbissstuben haben Tische nach draußen gestellt. Es ist bunt, laut und es wird meist türkisch gesprochen.
"Wir haben hier 60 Prozent Migrantenanteil", sagt Thorsten Lütke, der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Moabit-Nord. Das frühere Berliner Arbeiterviertel hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, und die Volkspartei SPD hat Mühe, dabei Schritt zu halten. Von den rund 250 eingetragenen Mitgliedern im Ortsverein haben wohl nur 50 einen Migrationshintergrund, vermutet Lütke, wohlgemerkt den Namen nach zu urteilen, denn man betreibe da keine Nachforschung. Im 20-köpfigen Vorstand des Ortsvereins sitzen vier Genossen mit ausländischen Wurzeln, was immerhin dem Mitgliederanteil der Migranten entspricht. Und man schickt als Direktkandidaten für das Berliner Abgeordnetenhaus den 39-jährigen Ilkin Özisik ins Rennen. Dessen Eltern kamen 1963 aus der Türkei nach Berlin. Der studierte Geologe hat gute Chancen auf das Mandat, denn der Wahlkreis wurde die letzten beiden Male von der SPD gewonnen. "Wir haben noch viel vor mit mir", scherzt er selbstbewusst.
Von der Versammlung zum Stammtisch
Die Einsicht, dass Zugewanderte auch in die Partei, ihre Gremien und die Parlamente gehören, wachse recht langsam, sagt Özisik: "Die Parteien sind nicht offen für Fremde, es hat sich Routine eingeschliffen, die alten Parteimitglieder sind sich selbst genug und wollen nach den Versammlungen schnell zum Stammtisch in die Kneipe". Mancher interessierte Migrant sei nur einmal in eine Parteiversammlung gekommen und nie wieder.
Der Quoten-Beschluss des SPD-Bundesvorstands, wonach 15 Prozent der Führungsmitglieder auf Bundesebene künftig auf jeden Fall Menschen mit "Migrationshintergrund" sein sollten, wird im Ortsverein Moabit-Nord unterschiedlich kommentiert: Es könne nicht schaden, finden die einen. Wenn die Quote stimmt, sage das aber noch nichts über die Qualität des Gremiums, meinen andere. Einig ist man sich: Die Quote könne ein Anreiz für Migranten sein, eine Motivation, sich zu engagieren. Vor allem müssten die ab 1960 Zugewanderten, die Gastarbeiter und ihre Nachkommen, gefördert werden, fügt Ilkin Özisik hinzu. Die Parteiführung verweist allerdings vorerst auf die amtliche Definition: Migranten sind alle, die entweder selbst oder deren Eltern oder Großeltern nach Deutschland einwanderten.
Die Parteioberen hätten in Sachen interkultureller Öffnung wohl "endlich den Schuss gehört", heißt es hinter vorgehaltener Hand auch im Ortsverein. Immerhin hat mittlerweile jeder Fünfte in Deutschland einen "Migrationshintergrund" und die Zahl wächst. Selbst die SPD hat annähernd 15 Prozent Mitglieder mit ausländischen Wurzeln. In Präsidium und Vorstand der Bundespartei sind diese aber nur durch Kenan Kolat vertreten, den Vorsitzenden des Türkischen Bundes. Der wurde nicht etwa auf einem Parteitag gewählt, sondern nachträglich aufgenommen und befreit nun seine Partei von der Peinlichkeit einer völlig "zuwandererfreien" Parteiführung.
Die Spuren des Cem Özdemir
Neidvoll erinnert man sich beim SPD-Ortsverein Moabit-Nord, welch großen Eindruck der türkischstämmige Parteivorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, hinterließ, als er die Gegend besuchte: "Viele in der Community sind noch heute stolz darauf", sagt Ilkin Özisik.
Die Grünen waren die ersten, die mit Özdemir 1994 einen Türkischstämmigen in den Bundestag brachten, und denselben zum ersten deutschen Parteichef mit Migrationshintergrund machten. Bei ihnen und der Linken sind Migranten im Vergleich zu anderen Parteien am besten vertreten.
Rein quantitativ setzen die Sozialdemokraten nun zum Überholen an. Eine Art Flucht nach vorn, denn besonders nach den Auseinandersetzungen um Thilo Sarrazins als migrantenfeindlich empfundene Thesen - samt missglücktem Parteiausschluss - läuft die SPD Gefahr, ihre traditionell große Wählerklientel unter den Zuwanderern zu verlieren. Besonders den Gastarbeitern der 60er/70er Jahre und ihren Familien galt die SPD als Partei, die sich für ihre Rechte einsetzte. Mancher Migrant fand über die Gewerkschaften und SPD auch in die Politik. Wie Josip Juratovic, der von sich sagt, er sei der einzige ehemalige Fließband-Arbeiter im Deutschen Bundestag. Der sozialdemokratische Abgeordnete mit kroatischen Wurzeln folgte 1974 als Jugendlicher seiner Mutter nach Deutschland, arbeitete später als Lackierer bei Audi am Band, engagierte sich bei Jungsozialisten und SPD, in der IG Metall und im Betriebsrat und schaffte 2005 den Sprung in den Bundestag.
Möglichst ein Kandidat mit Schnauzbart
Die lange politische Abstinenz der Migranten habe auch historische Ursachen, sagt Juratovic. Die erste und zweite Generation der Einwanderer wollte in Deutschland arbeiten und dann wieder zurück in die Heimat. Integration war von beiden Seiten nicht vorgesehen. Wenn Einwanderer für die deutschen Parteien interessant waren, dann vor allem, um kurzfristig Wählerstimmen zu binden. "Man setzte den Vorsitzenden eines türkischen Vereins, möglichst mit Schnauzbart, als Kandidaten auf die Wahlplakate. Er brachte die Stimmen seiner Landsleute für die Partei, hatte aber selbst nie eine Chance, weil ihn die Deutschen nicht wählten." Die Politik brauche deshalb Migranten, die sich in der ganzen Gesellschaft Ansehen erworben hätten. Die Quote, sagt Juratovic, sei dafür immer nur die zweitbeste Lösung. Aber er sei nicht dagegen, denn beim Gerangel um Aufgaben und Posten in den Parteien gerieten Minderheiten nun einmal ins Hintertreffen. Die Erfahrungen mit der Frauenquote seien gut.
"Keine Partei hat gut qualifizierte Migrantinnen und Migranten - die es ja hinlänglich gibt - bisher in ausreichender Zahl in Führungspositionen gebracht", verkündet SPD-Chef Sigmar Gabriel. Doch bei den anderen Parteien sieht man sich durch den Beschluss der Sozialdemokraten nicht in Zugzwang. Grüne und Linke halten sich zugute, auch ohne Quote seien bei ihnen die Türen offen für Migranten, die Union hüllt sich in Schweigen.
Akzeptanz durch die "Ochsentour"
Bei der FDP erklärt der integrationspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Serkan Tören, die Liberalen setzten nicht auf Quoten, sondern auf Chancengleichheit. Tören, dessen türkische Eltern einst als Gastarbeiter vom Siemens-Konzern angeworben wurden, hat selbst die "Ochsentour" vom einfachen Mitglied zum Bundestagsabgeordneten hinter sich. "Viel Arbeit, viele Versammlungen, viele Wahlkämpfe", sagt er. "Da geht es auch um Akzeptanz in der eigenen Partei. Ich hätte diese Akzeptanz nicht, wenn ich meine Position durch eine Quote erlangt hätte. Wenn man ernst genommen werden will, muss man das Gleiche durchgestanden haben wie die anderen." Bei den Liberalen zähle Leistung und Qualifikation.
Ein Blick ins Internet verrät aber auch: Außer dem designierten Parteichef Philipp Rösler, der im zarten Alter von neun Monaten als vietnamesische Kriegswaise von deutschen Eltern adoptiert wurde, gibt es derzeit mit Jorgo Chatzimarkakis nur einen Politiker im FDP-Vorstand, dessen Name einen "Migrationshintergrund" vermuten läßt.
Autor: Bernd Gräßler
Redaktion: Arne Lichtenberg