Das Wunder von Mailand
3. Juli 2016Der Film beginnt biblisch - und endet als Märchen. Am Anfang entdeckt eine alte Frau inmitten ihres Rübenfelds ein kleines schreiendes Baby. Wie Moses im Weidenkorb blickt es in die Welt und will dazugehören. Nachdem die alte Lolotta sich rührend um den kleinen Knirps, den sie Toto tauft, gekümmert hat, ist der nach dem Tod der Ziehmutter auf sich allein gestellt. Er wächst im Waisenhaus auf, mit 18 zieht er dann an die Peripherie der Großstadt Mailand. Dort wohnt Toto bei den Ärmsten der Armen.
Ein Glückskind im Armenviertel
Doch Toto ist ein Glückskind - weil er stets optimistisch und gut gelaunt ist. Das wirkt bei seinen Mitmenschen ansteckend. Toto wird zum Liebling der Armensiedlung. Dann kommen die bösen Spekulanten und wollen die Bewohner vertreiben, denn unter den Elendshütten Öl sprudelt. Toto bekommt vorübergehend Hilfe aus dem Himmel von der verstorbenen Lolotta. Doch am Ende bleibt nur die Flucht: Auf Besenstöcken reitend verlassen die Armen die Welt.
Regisseur de Sica, zuvor einer der populärsten Schauspieler seines Landes (Typ Grandseigneur), erlangte als Regisseur schon mit seinen ersten Filmen Weltruhm: Das neorealistische Meisterwerk "Fahrraddiebe"(1948) wurde zu einem Jahrhundertfilm, prägte ein ganzes Genre, gewann Preise auch in Hollywood, wo der Film 1950 einen Oscar erhielt. "Fahraddiebe" ist noch heute ein Film, der einem die Tränen in die Augen treibt. Ein Film von solcher melancholischen Wucht, dass nur ein Zuschauer ohne Herz davon unberührt bleibt.
Das Kino stemmt sich gegen die Wirklichkeit
Mit "Das Wunder von Mailand" (1951) verließ de Sica die ernst-melancholischen Pfade des italienischen Neorealismus, jener Filmästhetik, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Menschen im zerstörten Europa in all ihrem Elend zeigte - nach all den filmischen Ablenkungen, die das faschistische Kino zuvor zu bieten hatte.
Heute wirkt "Das Wunder von Mailand" wie ein sozialistisches Märchen, eine Mischung aus magischem Realismus und utopischer Politparabel. Man sollte sich aber nicht täuschen und glauben, dass sich die Zustände, der Abstand zwischen Arm und Reich, 65 Jahre nach Entstehung des Films zum Besseren gewendet hätten. Vielleicht in Europa, nicht aber in den meisten anderen Teilen der Welt. Insofern darf man "Das Wunder von Mailand" immer noch als einen sehr aktuellen Film bezeichnen.
Vittorio des Sica: ein humanistischer Regisseur
Als der trotz seiner vielen Oscars ein wenig in Vergessenheit geratene Regisseur Vittorio de Sica im vergangenen Jahr im Filmmuseum Wien mit einer großen Retrospektive gewürdigt wurde, schrieben die Veranstalter ins Programmheft: "Heute gilt De Sica als eine Art filmhistorischer Überhang, als Größe einer Epoche, die man nun 'überwunden' hat. Sein Humanismus ist mit dem allmählichen Verschwinden des Kinos als moralische bzw. soziale Instanz offenbar suspekt geworden, so wie dies auch bei anderen geliebten Auteurs der ersten Nachkriegsdekade der Fall war."
Als der Film in die Kinos kam, hatten die meisten Menschen noch einen unschuldigeren Blick auf das Kino: "Dieser italienische Film, der nach der Novelle 'Totò il buono' von Cesare Zavattini gedreht wurde, ist ein modernes Märchen. Mit dem ihm eigenen sozialen Verantwortungsbewusstsein hat ihn der Regisseur de Sica zu einer menschlich und künstlerisch bedeutungsvollen Aussage gemacht. Politisch tendenzlos, die Kraft des reinen Herzens verherrlichend, verdient dieser Film eine besonders eindringliche Empfehlung" - so die Begründung der Evangelischen Kirche zu ihrer damaligen Auszeichnung "Film des Monats".
Ein Klassiker im Wandel der Zeit
Doch gab es auch damals schon kritische Stimmen: "Schade, dass diesem Film voll Humor und Satire, bizarrer Einfälle und prachtvoller Fotografie der plausible Untergrund mangelt, den auch eine Fabelwelt nicht entbehren kann", urteilte beispielsweise die Wochenzeitung "Die Zeit". In Cannes begeisterte "Das Wunder von Mailand" die Jury und bekam den Preis der Jury zugesprochen. In New York gab's den Kritikerpreis.
Es bleibt dem Zuschauer von heute überlassen, wie er mit einem 65 Jahre alten Schwarz-Weiß-Film, der auf Magie und Märchenelemente inmitten einer gesellschaftlichen sozialen Schieflage angesiedelt ist, umgeht. Man kann darüber schmunzeln. Man kann sich aber auch auf das Spiel einlassen: Dann entfacht "Das Wunder von Mailand" noch heute seinen Zauber.
Vittorio de Sica: Das Wunder von Mailand, Italien 1951, mit Francesco Golisano, Emma Gramatica, Paolo Stoppa, u.a., 100 Minuten. Die DVD ist beim Anbieter Pidax erschienen.