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Gesellschaft

Der Schmerz der Somalierin Fardowso

13. Oktober 2017

Fardowso musste mit ihren Kindern fliehen. In ihrem Zufluchtsort in der Hauptstadt Mogadischu wurde ihr Leid noch größer. Fardowsos Geschichte ist auch eine Geschichte über das Leben somalischer Frauen.

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Somalia Mogadischu | Überlebende einer Gruppenvergewaltigung
Bild: DW/S. Petersmann

Die Erinnerung kommt oft mit Gerüchen zurück. Der Geruch von Feuer. Der Geruch von Schweiß. Dann fängt Fardowso an zu zittern, weil sie nicht vergessen kann, was die Männer ihr angetan haben. Sie heißt nicht wirklich so. Sie sucht sich den Namen aus. Fardowso bedeutet Himmel. "Sie haben mir alles genommen. Meinen Mann. Meinen Körper. Meine Würde. Mein Zuhause", presst sie unter Tränen hervor.

Wenn die Erinnerung Fardowso überwältigt, würde sie am liebsten schreien. Doch sie hält sich den Mund zu, um ihre vier Kinder nicht zu verängstigen. Das älteste ist zehn Jahre, das jüngste acht Monate alt. Fardowso zieht zwei Jungen und zwei Mädchen groß. Allein. "Es gab zu Hause wegen der Dürre Streit um Land zwischen uns und einem anderen Clan. Es gab eine Schießerei. Sie haben meinen Mann erschossen und unser Dorf angezündet", erzählt sie. Die Witwe musste mit ihren Kindern fliehen. Mit nichts. Die Flammen fraßen alles auf. Gewalt zwischen rivalisierenden Clans gehört im kriegsgeschundenen Somalia zum Alltag. Viele Männer tragen Waffen.

In Zeiten der Dürre, wenn das Vieh stirbt und die Ressourcen knapper werden, nehmen die bewaffneten Konflikte zu. Fardowso stammt aus einem Gebiet, das von den Extremisten der Al-Shabaab kontrolliert wird. Die radikalen Islamisten verhindern Hilfslieferungen an die Bevölkerung. Derzeit sind über sechs Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen - etwa die Hälfte der Bevölkerung.

Auf die Frage, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren kann, antwortet die komplett verhüllte Witwe mit einem lauten Zungenschnalzen. Unmöglich.

Die Schändung der Geflüchteten

Somalia Mogadischu | Notunterkünfte für Binnenflüchtlinge
Flüchtlingslager in Mogadischu - Leben auf engstem RaumBild: DW/S. Petersmann

Nach dem Angriff auf ihr Dorf flüchtete Fardowso mit ihren Kindern Richtung Mogadischu und kam in einem der überfüllten Lager für Binnenflüchtlinge unter. Somalias Hauptstadt ist nach über 20 Jahren Krieg, Terror und wiederkehrenden Dürren von Flüchtlingslagern durchzogen. Über eine Million Somalis leben als Flüchtlinge im eigenen Land, viele zieht es auf der Suche nach Schutz und Nahrung in den Großraum Mogadischu. Wie Fardowso werden viele nie wieder nach Hause zurückkehren.

Sie berichtet stockend über die Nacht der Gewalt. Fardowso hatte sich mit ihren Kindern eine kleine Rundhütte aus Zweigen, Plastikplanen, Blech und Stofffetzen gebaut - so, wie es in den meisten Lagern üblich ist. Die Hütten stehen dort dicht an dicht, Privatsphäre gibt es nicht. Sie lag zusammengerollt mit ihren Kindern in der Dunkelheit, als die beiden Männer kamen. Die Angreifer zogen Fardwoso halb aus der Hütte und vergewaltigten sie abwechselnd. Mehrfach. "Als sie mir das antaten, habe ich um Hilfe gerufen. Die Männer haben mich mit Messern bedroht und verletzt. Ich habe mich gewehrt, aber es kam niemand, um mir zu helfen. Sie haben einfach weitergemacht", sagt sie. Fardowso entblößt in ihrer Verzweiflung ihren Rücken und zeigt die Narben der Verletzungen, die ihr die Vergewaltiger mit ihren Messern zugefügt haben. Vielleicht waren die Täter Milizionäre, vielleicht Geflohene wie sie selber. Sie weiß es nicht.   

Die Pille danach

Keine Polizei. Keine Strafverfolgung. Keine Gerechtigkeit. Als die Männer in jener Nacht von ihr abließen, zog sich Fardowso blutend in ihre Hütte zurück und legte sich zu ihren verängstigten Kindern. Warum half ihr niemand? "Alle verstecken sich nachts in ihren Hütten. Alle haben Angst", glaubt sie. Im Morgengrauen floh sie mit ihrer Familie in ein anderes Lager. Hier traf sie zufällig auf Sozialarbeiterinnen des somalischen Roten Halbmonds, denen sie sich anvertraute. Die Nothelferinnen brachten die verletzte Mutter in eine kleine Klinik, die vom Internationalen Roten Kreuz (IKRK) unterstützt wird. Ihre Schnittwunden wurden versorgt. Sie konnte sich waschen. Hier bekam Fardowso auch die Pille danach, um eine Schwangerschaft auszuschließen. Dazu antiretrovirale Medikamente gegen eine mögliche HIV-Infektion und das Angebot, über das Geschehene zu reden. Über die Vergewaltigung. Ein Wort, dass Fardowso selber nicht benutzt. "Ich will alleine mit meinen Kindern weiterleben. Ich will keinen Mann mehr, nachdem was vorgefallen ist. Ich schaffe das. Mit Kochen und Wäsche waschen. Mein ältester Sohn geht in die Koranschule. Das kostet drei Dollar im Monat. Sie haben den Preis gesenkt, weil ich Witwe bin", sagt sie. Wenn ihr alles zu viel wird, geht sie manchmal zurück zu der kleinen IKRK-Klinik, um zu reden.   

Kultur der Straflosigkeit

Somalia Mogadischu Binnenflüchtlilnge
Es gibt nur wenig geschütze Räume für Frauen. Beauty-Salons gehören dazu. Hinter dem Vorhang geht es um viel mehr als Schönheit. Bild: DW/S. Petersmann

Vom Staat kann Fardowso keine Hilfe erwarten. Somalia ist nach über zwei Jahrzehnten Krieg und Terror ein gescheiterter Staat, der neu aufgebaut werden muss. Noch verschlingt der Kampf gegen den Terror der Al-Shabaab die meisten Ressourcen. Es fehlt an Institutionen, die Frauen und Kinder schützen. Es gibt auch keine verlässlichen Statistiken über sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder. UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, meldete allein für den Monat Juni 2017 über 900 Fälle aus den Gebieten, in denen die Organisation aktiv ist. Doch nur die wenigsten Frauen vertrauen sich jemandem an. Sex ist ein Tabuthema. Genitalverstümmelung ist weit verbreitet, die somalische Gesellschaft wird von Männern dominiert.

Viele Gebiete, in denen Kämpfer sexuelle Gewalt gegen Frauen als Waffe einsetzen, sind für Helfer nicht erreichbar. Eine Studie der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) aus dem Jahr 2014 stellt fest, dass eine Vergewaltigung in Somalia von den meisten Männern nicht als ein Verbrechen, sondern als "etwas Normales" begriffen wird. Es herrsche eine Kultur der Straflosigkeit. HRW dokumentierte unter anderem den Fall einer Frau, die auf einer Polizeistation in Mogadischu erneut vergewaltigt wurde, als sie dort Hilfe suchte. Auch somalische Soldaten und Truppen der Afrikanischen Union, die zum Schutz der somalischen Bevölkerung im Land sind, sollen sich an Frauen vergangen haben. Die Vereinten Nationen dokumentierten im Jahr 2012 mindestens 1700 Vergewaltigungen in den Flüchtlingslagern in Mogadischu. In 70 Prozent dieser Fälle trugen die Vergewaltiger eine Uniform.