Star der finnischen Literatur
6. Oktober 2014Ob sie eine politische Autorin ist? Sofi Oksanen atmet tief durch, bekommt diesen strengen Blick und sagt: "Ich bin ein politischer Mensch!" Und weil sie das große Glück habe, schreiben zu können, halte sie es für ihre Pflicht, ihre Begabung für einen guten Zweck einzusetzen. "Das bedeutet, dass ich auf der Seite der Unterdrückten bin. Bei denen, die nicht die Möglichkeit haben, ihre Geschichte zu erzählen."
In zwei Welten
Im Januar 1977 wurde Sofi Oksanen im mittelfinnischen Jyväskylä geboren, ihr Vater ist Finne, die Mutter stammt aus Estland. Als Kind hat sie sie regelmäßig in die alte Heimat begleitet, ist mit nach Tallinn und aufs Land zur Großmutter gefahren – in eine andere Welt, die seinerzeit Teil der Sowjetunion war. Es sei immer kompliziert gewesen, dorthin zu reisen, erinnert sich Sofi Oksanen. Zunächst musste ihre Familie offiziell eingeladen werden, dann wartete man auf die Zustimmung der Behörden, schließlich auf das Visum. Und immer war da dieses Misstrauen gegenüber im Ausland lebenden Esten. Ihr Telefon sei angezapft worden, Briefe habe man zensiert. Insofern, sagt Sofi Oksanen, "ist der KGB seit Kindertagen Teil meines Lebens."
Ihre Herkunft hat Sofi Oksanen sensibilisiert, die eigene Familiengeschichte hat das literarische Schaffen wesentlich geprägt. So spielen ihre Romane nicht in Finnland, sondern in Estland. 2003 erschien "Stalins Kühe", der Debütroman der studierten Literaturwissenschaftlerin und Dramaturgin. Er provozierte nahezu umgehend eine breite öffentliche Debatte und katapultierte seine junge Autorin an die Spitze der finnischen Literaturszene. Denn Sofi Oksanen beeindruckte nicht nur mit erzählerischem Talent und einer sorgsam komponierten Dramaturgie, sondern auch, weil ihre Literatur sich auf fiktionales Neuland begeben hatte. Erzählt "Stalins Kühe" doch von den Verwerfungen verdrängter Vergangenheit: Von einer gestandenen estnischen Diplomingenieurin und Sowjetfrau, die aus Liebe nach Finnland gezogen ist, aber im Land der idealisierten Gleichberechtigung mehrfach ins Abseits gerät. Sie verleugnet ihre Identität, damit sie nicht als russische Hure gemobbt wird, flüchtet in Gelegenheitsjobs und die Rolle der Hausfrau, weil es zu dieser Zeit in Finnland noch keine weiblichen Ingenieure gibt, und sie zieht keine Röcke mehr an, weil emanzipierte finnische Frauen nur Hosen tragen. Anna, ihre Tochter, hat diese Beschädigungen verinnerlicht, verleugnet wie die Mutter jeden Bezug zu Estland, verschweigt all die Verletzungen, die die Familie dort über Jahre erfahren hat, und konzentriert sich darauf, unangreifbar zu sein und einen perfekten Körper zu besitzen. Die Herrin, der sie dient, heißt Bulimie.
Abseitiger Geschichtsraum
"Stalins Kühe" ist erst 2012 auf Deutsch erschienen, nach "Fegefeuer" (2011), dem Roman, mit dem Sofi Oksanen der internationale Durchbruch gelang. Er wurde bislang in knapp 40 Sprachen übersetzt, mit Preisen geradezu überhäuft und hat seiner Autorin vorübergehend ein Einreiseverbot nach Russland beschert. Auch hier hat Sofi Oksanen einen abseitigen Geschichtsraum betreten: das malträtierte Estland in der Zeit zwischen 1939 und 1992. In einem Geflecht aus Rückblenden und Momentaufnahmen entfaltet sie die Lebensgeschichten zweier verwandter Frauen, deren moralische Werte sich verflüchtigen, je mehr sie von dem im Land grassierenden Bösen infiziert werden. So spiegelt sich die traumatische Geschichte Estlands im Privaten wider. Hier Fremdbestimmung, Terror und Verrat, dort Unterdrückung, Vergewaltigung und Folter durch die Geheimpolizei.
Sofi Oksanen ist eine irisierende Erscheinung. Mit klugen grünen Augen hinter runder Nickelbrille, auffälligem Make-Up, dicken schwarz-lila Dreadlocks und einer Vorliebe für hohe Absätze, dicke Perlen und bauschige Kleidung. Eine exzentrische Kunstfigur, deren nachdenkliche Ernsthaftigkeit zunächst überrascht. Es sei unbedingt notwendig, die Geschichte zu erhellen, sagt sie. In ihrem jüngsten Roman "Als die Tauben verschwanden" hat sie einem vom Totalitarismus genährten Menschentyp einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte gegeben, der im wahren Leben lieber unerkannt bleibt: der Kollaborateur. "Ich denke, wir müssen wissen, was das für Menschen waren. Und welche Motive sie hatten, um so zu handeln, wie sie gehandelt haben."
Warum?
Zwischen 1939 und 1944 wurde Estland dreimal überrollt – zunächst von der Roten Armee, woraufhin das Land von "bourgeoisen Elementen" gesäubert wurde. Dann kam die deutsche Wehrmacht und mit ihr begann die Judenvernichtung. Nach dem Abzug der Deutschen im Herbst 1944 war Estland ganze fünf Tage lang ein freies Land. Dann kehrten die Sowjets zurück, rächten sich und blieben bis 1991. Vor dem Hintergrund dieser großen Geschichte spielt Sofi Oksanens jüngster Roman. Seine Figuren lavieren sich auf unterschiedlichste Weise durchs Leben, versuchen durchzukommen, jeder auf seine Weise. Insofern, sagt Sofi Oksanen, seien sie so etwas wie Helden. Mit Ausnahme von Edgar, der süchtig ist nach Anerkennung und Aufmerksamkeit. Skrupellos dient er sich den jeweiligen Machthabern an, den Nazis wie dem sowjetischen KGB, und spielt mustergültig auf ihren Klaviaturen mit .
"'Als die Tauben verschwanden' ist eine Art Autopsie der Kollaboration", sagt Sofi Oksanen. Aber es sei auch eine kritische Auseinandersetzung mit politischer Propaganda. Die aktuelle russische Politik, sagt sie dann noch, sei ein Beispiel dafür, was passiere, wenn man Menschen wegen ihrer Vergangenheit nicht zur Rechenschaft ziehe. "Russland wird heute von einem früheren KGB-Mann regiert. Putin und seine Freunde haben alle für den KGB gearbeitet, und sie hatten Macht. Und natürlich wollen sie die unbedingt erhalten." Von den Abgründen, die sich auftun, wenn Macht missbraucht wird, erzählt Sofi Oksanen in ihren aufwühlenden Büchern. Eine eindringliche, eine erstaunliche Mahnerin!