Aus den Fehlern Hongkongs lernen
6. November 2019Im Westen unterschätzen wir gerne die wirtschaftlichen Ursachen der Proteste in Hongkong, weil sie aus der Sicht vieler den Reinheitsgehalt der Freiheitsbewegung verwässern. Es soll nur um Werte gehen, nicht um Geld. Dabei ist gerade bezahlbarer Wohnraum ebenfalls ein Wert unserer Gesellschaften. Oder besser gesagt: ein sozialer Standard.
In Hongkong jedenfalls ist die Lage am Wohnungsmarkt sehr viel schlimmer als zum Beispiel in Berlin. Dazu ist die Sozialversorgung lückenhaft, die Karriereaussichten sind schlecht. Das sind auch wichtige Gründe, warum die Hongkonger seit Monaten auf die Straße gehen. Ruhe wird es in der Stadt erst wieder geben, wenn auch die wirtschaftlich-sozialen Probleme gelöst sind, so viel ist klar - vor allem das Problem der sehr teuren, extrem kleinen Wohnungen, die fast das gesamte Einkommen der Mittelschicht auffressen.
Ein Eigenheim für jeden Hongkonger
Bereits Mitte Oktober hat Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam Pläne veröffentlicht, um den sozialen Wohnungsbau in der Finanz-Metropole zu verbessern. "Jeder Hongkonger wird die Chance haben, sein eigenes Heim zu besitzen", erklärte Lam. Dafür will sie 700 Hektar ungenutztes Land in den nördlichen Territorien zur Verfügung stellen. Erstkäufer von Wohnungen sollen finanziell entlastet werden. Mit dem Bau einer riesigen künstlichen Fläche vor der Insel Lantau soll die akute Wohnungsnot dann langfristig gelindert werden.
Dass diese Pläne die Demonstranten nicht schlagartig befrieden würden, war klar. Die kämpfen mittlerweile an mehreren Fronten, wollen freie Wahlen und eine unabhängige Aufklärung der Polizeiübergriffe. Ihrer Regierungschefin trauen sie nicht mehr über den Weg. Denn das, was Lam verspricht, haben ihre Vorgänger auch schon versprochen und nicht gehalten. Dass Chinas Staats-und Parteichef Xi Jinping Carrie Lam am Montag bei einem Treffen in Schanghai vollste Unterstützung zusicherte und für ihre gute Arbeit während der Proteste lobte, trägt auch nicht dazu bei, das Vertrauen der Demonstranten zu erhöhen.
Eins ist klar: Für Peking ist Hongkong eine wichtige Stadt. Aber sie ist längst nicht mehr die wichtigste oder wie früher das einzige Tor zum Westen. Zur Zeit der Rückgabe der Kronkolonie an China 1997 wurde noch rund die Hälfte des chinesischen Handels über Hongkong abgewickelt. Heute sind es weniger als zwölf Prozent. Als Alternative hat Peking mittlerweile die 20-Millionen-Einwohner-Metropole Shenzhen in Stellung gebracht. Die Grenzstadt, die 1980 unweit von Hongkong als Sonderwirtschaftszone gegründet wurde, soll bereits 2035 der wichtigste internationale Finanzplatz Asiens sein. Die Wirtschaftskraft Hongkongs hat Shenzhen bereits im vergangenen Jahr überholt. Bis zur Mitte des Jahrhunderts soll Shenzhen dann zusammen mit Hongkong, Macau und mehreren anderen Städten in einer riesigen Metropolregion mit 70 Millionen Einwohnern aufgehen - der "Greater Bay Area".
Modellstadt für den Sozialismus mit chinesischen Merkmalen
Um Shenzhen zur "Modellstadt für den Sozialismus mit chinesischen Merkmalen" zu machen, will Peking auch aus den Problemen Hongkongs lernen, zumal die Stadt mit einem Altersdurchschnitt von 33 Jahren eine der jüngsten Chinas ist. Schon heute bahnen sich hier ähnliche Probleme wie in Hongkong an. In weniger als zehn Jahren hat sich die Stadt zu einer der begehrtesten Standorte für High-Tech-Innovationen entwickelt. Konzerne wie Tencent, Huawei oder der Batterie- und Autoriese BYD haben hier ihren Sitz und locken junge Talente aus aller Welt. Das hat auch die Immobilienpreise nach oben getrieben. Zwischen 2005 und 2015 haben sich die Preise pro Quadratmeter mehr als verzehnfacht. Wer hier heute eine Wohnung kaufen will, zahlt durchschnittlich 8000 US-Dollar pro Quadratmeter. Shenzhen ist damit bereits an fünfter Stelle der teuersten Städte für Immobilien weltweit. Wer in zentraler Lage nur mieten will zahlt für ein Zimmer monatlich ebenfalls ab 1000 Euro aufwärts. Für Durchschnittsverdiener oder Berufseinsteiger wird das zum Problem, da ihr Einkommen nicht mehr mit den Immobilienpreisen mithalten kann.
Peking will - anders als in Hongkong - die Entwicklungen jedoch nicht den kapitalistischen Marktkräften überlassen, sondern frühzeitig mit sozialem Wohnungsbau gegensteuern. Deshalb gab die Regierung bekannt, zunächst 11.000 Apartments im Gesamtwert von umgerechnet 1,9 Milliarden Dollar bauen zu wollen, mit Quadratmeterpreisen, die zwischen 50 und 60 Prozent unter dem aktuellen Marktwert liegen. Zwischen 2018 und 2035 sollen 1,7 Millionen neue Wohneinheiten entstehen, von denen mindestens eine Millionen - also gut 60 Prozent - finanziell schwächeren Haushalten vorbehalten sein sollen. Das entspräche 60.000 Sozialwohnungen pro Jahr. Also eine Verdreifachung der neuen Wohnungen im Vergleich zu den zurückliegenden Jahren.
Der Verkauf von Land war in Shenzhen lange eine der Haupteinahmequellen der Lokalregierung. Angesichts der Proteste in der Nachbarstadt hat Peking aber offenbar die lange vernachlässigte Situation als Notlage erkannt. Auch eine Deckelung der Quadratmeterpreise auf 7100 Dollar wurde angekündigt. "Wohnungen sind zum Wohnen da und nicht zum Spekulieren", verkündete Xi Jinping bereits vor zwei Jahren. Ähnliche Pläne könnten in anderen Städten folgen.
Die Frage der individuellen Freiheiten bleibt offen
Dafür muss Peking in Shenzhen Landmasse von gut 34 Quadratkilometern losschlagen. Das ist sehr ambitioniert. Und viele Fragen sind noch offen: Welche Qualitätsstandards haben die staatlich geförderten Wohnungen? Wer darf sich wann und wie als Käufer bewerben? Wird das System auch solchen Menschen Wohnraum zugänglich machen, die keine "Hukou"-Registrierung besitzen, also nicht dauerhaft in der Stadt gemeldet sind? Bis diese Fragen nicht geklärt sind, wird sich auch die Preisspirale drehen. Die Bürger in Shenzhen werden weiterhin bezahlen, was ihnen auf dem freien Markt geboten wird. Im dritten Quartal stiegen etwa die Preise im relativ zentralen Bao'an-Distrikt um 9,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und liegen nun bei 54.000 Yuan pro Quadratmeter, rund 7.700 US-Dollar.
Und selbst wenn Shenzhen das alles hinbekommt, bleibt immer noch die Frage nach mehr individuellen Freiheiten. Denn die Idee, der Mensch sei allein durch Wohlstand und bezahlbaren Wohnraum zufriedenzustellen, funktioniert sicherlich eine Weile, aber nicht für immer, wie man auch in Hongkong sieht. Ein freier Kapitalverkehr wie in Hongkong ist mit einer auf Shenzhen zugeschnittenen Variante des Prinzips von "Ein Land, Zwei Systeme" denkbar. Auch die Verflechtung Hongkongs komplexer Steuer-und Zollsysteme in der Great Bay Area könnte mit einiger Mühe glücken. Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit, wie sie den Hongkongern im mit Großbritannien ausgearbeiteten "Basic Law" gewährt wird, steht jedoch in Shenzhen nicht zur Debatte. Erst einmal jedenfalls.
Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit über zwanzig Jahren in Peking.