Sich mit Hintergedanken dem Unvermeidlichen fügen
13. November 2002Welch ein Unterschied im Vergleich zu 1997. Als die NATO damals ihre erste Erweiterungsrunde nach Osten einläutete, hagelte es Proteste aus Moskau. Dass die NATO damals nur Polen, Ungarn und die Tschechische Republik ins Bündnis aufnahm, war eine unmittelbare Folge dieses Protests. Ganz anders heute: Beim NATO-Gipfel kommende Woche in Prag wird das Bündnis gleich sieben Staaten zum Beitritt einladen - und mit Estland, Lettland und Litauen erstmals auch ehemalige Sowjetrepubliken.
Frage an den russischen Normalbürger Iwan Iwanowitsch: Was ist die NATO? Antwort: Ein aggressiver Militärblock, der früher gegen die Sowjetunion und jetzt gegen Russland eingestellt ist. Zweite Frage: Soll Moskau diesem Bündnis beitreten? Antwort: Auf jeden Fall!
Diese Anekdote geistert durch die Flure der russischen Präsidialbürokratie und zeigt, wie widersprüchlich das Verhältnis vieler Russen gegenüber der NATO und der bevorstehenden Osterweiterung des westlichen Bündnisses ist. Einerseits belegen Umfragen, dass die meisten Russen mit der NATO nur Negatives verbinden. Das hat historisch Gründe, hängt aber auch mit dem Kosovo-Krieg der NATO gegen Jugoslawien zusammen. Andererseits empfinden die Russen die NATO nicht wirklich als Bedrohung und würden lieber heute als morgen dem Bündnis beitreten.
Indessen ist die politische Elite in Moskau realistisch genug, um einzusehen, dass die Mitgliedschaft Russlands in der NATO illusionär ist. Sie erkennen ferner, dass Moskau nicht mehr die Macht hat, die Osterweiterung des Bündnisses zu verhindern. Also wehrt man sich nicht gegen etwas, was ohnehin nicht zu verhindern ist.
Präsident Wladimir Putin ist in außenpolitischen Fragen Pragmatiker. Das unterscheidet ihn von seinem Vorgänger Boris Jelzin, der das Bild der Supermacht Russlands möglichst lange erhalten wissen wollte. Doch war das Bild von der Supermacht Russland letztlich ein potjomkinsches Dorf, an das im Westen - inzwischen aber auch in Russland selbst - niemand so recht glaubte. Moskaus Armee war und ist noch nicht einmal in der Lage, Tschetschenien zu befrieden. Auch wurde Moskau übergangen, als die NATO beschloss, dem jugoslawischen Diktator Slobodan Milosevic mit militärischen Mitteln im Kosovo Einhalt zu gebieten.
Inzwischen akzeptiert Moskau die zweite Osterweiterung des westlichen Bündnisses ohne großen Protest, ohne Bedingungen zu Stellen oder gar zu drohen. Wer einen russischen Normalbürger fragt, wieviele Staaten bald der NATO beitreten werden, dürfte kaum die richtige Antwort hören. Das verbindet ihn übrigens mit dem Normalbürger in Berlin oder London, Paris oder Washington: Kaum jemand interessiert sich für die Erweiterung. Warum ist das so? Was unterscheidet die zweite NATO-Osterweiterung von der ersten?
Das hat im wesentlichen drei Gründe. Erstens hat die NATO die zweite Erweiterung "abgefedert". Im Klartext: Das westliche Verteidigungsbündnis schuf vor der neuerlichen Erweiterungsrunde den "20er-Rat", in dem Russland gleichberechtigt neben den anderen NATO-Mitgliedsstaaten vertreten ist. Dieser "NATO-Russland-Rat" könnte sich zu einer Art "Parallel-NATO" entwickeln.
Zweitens: Die NATO spielt nach den Ereignissen des 11. September 2001 nur eine untergeordnete Rolle im Kampf der zivilisierten Welt gegen den internationalen Terror. Die NATO verlor an politischem Gewicht, als sie nach dem 11. September erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall ausrief und die USA dann doch ohne die meisten NATO-Partner handelten. Der Krieg bestimmt die Allianz - nicht umgekehrt, hieß es in Washington lapidar.
Drittens: Als Folge der Terrorangriffe vom 11. September belebte Moskau eine schon tot geglaubte Partnerschaft mit Washington. Das kam den USA entgegen: Sie brauchen Russland als Verbündeten im Kampf gegen die islamischen Fundamentalisten.
Gegen die bevorstehende NATO-Osterweiterung murrten in Moskau lange Zeit die Militärs. Präsident Putin setzte sich über deren Bedenken hinweg. Inzwischen haben die russischen Militärs ihre Vorbehalte abgebaut. Mehr noch: Viele befürworten nicht nur die jetzt anstehende NATO-Osterweiterung, sie wünschen sich noch eine weitere Vergrößerung der NATO. Und das nicht ohne Hintersinn: Je größer die NATO wird, desto handlungsunfähiger wird sie, so das Kalkül der russischen Generäle. Unrecht haben sie damit nicht.
Die NATO ist schon lange kein in erster Linie militärisches, sondern vor allem ein politisches Bündnis. Dennoch streben die Balten, Slowaken, Slowenen, Rumänen und Bulgaren in die NATO. Sie suchen dabei nicht das Bündnis mit Portugal, Deutschland oder Kanada. Sie suchen die Allianz mit den USA. Die NATO betrachten sie nur als sicherheitspolitische Brücke nach Washington.
Mehr denn je gruppieren sich vor allem die neuen und künftigen NATO-Mitgliedsstaaten um die letzte Supermacht USA. Ohne Washington hat die NATO kaum politisches Gewicht. Und militärisch wäre das westliche Verteidigungsbündnis ohne die USA schlicht handlungsunfähig. In Moskau ist das nicht unbemerkt geblieben. Präsident Putin wird bei sicherheitspolitischen Fragen in Zukunft noch mehr die Nähe zu Washington suchen, gegebenenfalls auch über die Köpfe der Europäer hinweg.