Geheimes Verlangen
19. Juli 2012Egal ob beim Online-Versand Amazon oder bei i-Tunes, bei der Buchhandelskette Hugendubel oder in der Spiegel-Bestsellerliste, überall ist "Shades of Grey", mit deutschem Untertitel "Geheimes Verlangen", auf Platz 1. Ganz gleich, ob man bei E-Books oder Taschenbüchern sucht, der erste Teil einer Romantrilogie steht ganz oben. Damit folgt nun auch Deutschland dem Beispiel von Großbritannien, den USA und Kanada, wo das Buch der britischen Autorin E. L. James bereits alle Verkaufsrekorde gebrochen hatte. 31 Millionen Exemplare wurden bisher weltweit verkauft. In Deutschland wurde die Auflage nach nur einer Woche von 500.000 auf eine Million erhöht.
Zwischen Groschenroman und Soft-Porno
Sämtliche deutsche Feuilletons hatten zum Erscheinen des Buches berichtet. Alle wollten dem Phänomen "Shades of Grey" auf den Grund gehen und waren sich dabei zunächst einmal einig: Inhalt und Sprache sind auf den ersten Blick nicht sonderlich innovativ. Die 21-jährige Studentin Anastasia Steel verliebt sich in den reichen Unternehmer Christian Grey. "Er ist nicht nur attraktiv, sondern der Inbegriff männlicher Schönheit", so der Text der deutschen Übersetzung. Sie erliegt ihm vom ersten Augenblick an – er umgarnt und verführt sie. Ein richtiger Groschenroman. "In der Nacht wälze ich mich im Bett herum und träume von rauchgrauen Augen, Overalls, langen Beinen, langen Fingern und dunklen, unerforschten Orten." Mit der Sprachgewalt eines Marquis de Sade hat E. L. James wenig gemein. Wäre da nicht die detaillierte Beschreibung von Sex- und schließlich Sado-Maso-Szenen.
Männer gucken Pornos, Frauen lesen Romane
"Ich zerre an den Fesseln. Der Schreck fährt mir durch sämtliche Glieder, während mich eine Euphorie erfasst, wie ich sie noch nie erlebt habe.“ Verglichen mit Pornos, die im Internet kursieren, ist das mehr als harmlos und so hatte der Roman schnell seinen Spitznamen "Mommy-Porn" weg. Denn die meisten Leser sind Leserinnen.
Den Sexualwissenschaftler und Psychotherapeuten Andreas Hill wundert das nicht. Dass Porno-Filme vor allem von Männern für Männer gemacht werden, sei kein Klischee, sondern entspreche durchaus der Realität. Frauen fühlten sich eher von einer Geschichte angesprochen, besonders wenn diese auch noch eine psychologische Erklärung für die sado-masochistischen Neigungen liefere. In dem Roman erzählt Christian Grey, er sei von einer Freundin seiner Mutter verführt worden als er fünfzehn war. "Sie hatte einen sehr eigenwilligen Geschmack. Ich war sechs Jahre lang ihr Sklave."
Wenn der Vampir seiner Lust nachgibt
Die dunkle Seite von Christian wird damit zwar begründet, zugleich bleibt er aber in Anastasias Worten "unheimlich", sie wird auch immer wieder vor Christian gewarnt. Die Autorin E. L. James hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass Stephenie Meyer mit ihren "Twilight"-Romanen ihre Inspiration war. Die sexuelle Konnotation von Vampirromanen – das Begehren, das nicht gestillt werden darf – ist auch nichts Neues. Und schließlich hatte auch "Twilight" alle Rekorde gebrochen, nicht zuletzt in der Verfilmung.
Und doch, so Markus Klose, könne man einen Publikumserfolg nicht einfach so reproduzieren. "Wenn es so einfach wäre, täte das ja jeder", schmunzelt der Marketinggeschäftsführer des Verlags Hoffmann & Campe. Beim Deutschen Börsenverein sitzt er im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Publikumsverlage und darunter findet sich auch die Erotikliteratur. Das Schema "Frau gibt sich der Liebe hin, so dass sie sich ganz ausliefert" finde sich in etlichen Romanen. Die Story verlaufe immer ähnlich, die Erfolgsgeschichte der Romane selbst jedoch nicht. Eine wirkliche Entwicklung in der Erotikliteratur habe es in den vergangenen Jahren nicht gegeben, findet er.
Tabuthema: Körperlichkeit und Schmerz
Der letzte deutsche Sex-Roman-Aufreger, Charlotte Roches "Feuchtgebiete", sei in eine ganz andere Kategorie gefallen. Der Roman beherrschte 2008 nicht nur die deutschen Bestsellerlisten. Es war auch der erste deutschsprachige Titel, der es auf Platz eins der internationalen Bestsellerliste von Amazon schaffte. In der Geschichte der 18-jährigen Helen, die im Krankenhaus liegt, weil sie sich bei einer Analrasur verletzt hat, geht es zwar auch um Körperlichkeit und Schmerz. Der Aspekt der Verführung und Erotik aber fehle völlig, meint Klose. Auch sei das sprachliche Niveau bei Roche anspruchsvoller. Und doch: in beiden Fällen geht es um Formen der Sexualität, die von dem abweicht, was gesellschaftlich als normal gilt.
"Konsensorientierte Sexualität" nennt die der Sexualforscher Andreas Hill. Auch wenn heute besonders im Internet jeder mit pornografischen Darstellungen konfrontiert werde, gebe es immer noch gesellschaftliche Tabus. "Sado-masochistische Fantasien sind nicht so selten wie man denkt". Schon in den 1950er und 1970er Jahren habe es Forschungen zu sado-masochistischen Fantasien gegeben, erzählt Hill. Demnach hatten mehr als 20 Prozent der Frauen Fantasien, in denen sie zum Sex gezwungen werden. Sich auf der einen Seite jemandem völlig hinzugeben und auf der anderen Seite erobern und beherrschen zu wollen, sei jeder Form von Sexualität in unterschiedlicher Ausprägung inhärent. Diese tatsächlich auszuleben ist aber noch einmal etwas völlig anderes. Bei neueren Studien, die allein sado-masochistische Praktiken erheben, bekannten sich dazu gerade einmal knapp ein bis zwei Prozent der Befragten – bei Männern wie Frauen.
Entweder Hure oder Heilige
Warum aber zieht Frauen heute, in einer doch größtenteils emanzipierten Gesellschaft, die Vorstellung an, beherrscht, kontrolliert, unterworfen zu werden? In den deutschen Feuilletons wurde dem Buch vorgeworfen, ein Rückschlag für die weibliche Emanzipation zu sein. Die Frau sei in der Literatur immer noch entweder Hure oder Heilige. Ausgerechnet Alice Schwarzer, die deutsche Ur-Feministin, verteidigte den Roman gegen diese Kritik. Wenn eine Frau über männlichen Sadismus und ihre eigenen Fantasien schreibe, sei doch gerade das emanzipiert. Die Frau werde in "Shades of Grey" nie zum passiven Objekt degradiert, "sondern bleibt denkendes und handelndes Subjekt", so Alice Schwarzer im Interview mit der Zeitung "Frankfurter Rundschau".
Für Andreas Hill macht der Zwiespalt zwischen Emanzipation und Unterwerfung durchaus Sinn. Denn gerade wenn – zumindest auf dem Papier – die volle Gleichstellung erreicht sei, mache es einen Reiz aus, zumindest in der Fantasie diese wieder aufzuheben. Offenbar sei unsere Gesellschaft mittlerweile frei genug, eine prä- oder postfeministische Fantasie zu formulieren, denkt Hill.
Prüde? Von wegen.
Auch den enormen Erfolg wertet Andreas Hill als Zeichen einer sexuellen Offenheit. Nicht weil wir so prüde sind, dass wir uns in die Welt der Bücher flüchten müssen, lesen wir Erotikromane. Im Gegenteil, wir lesen sie, weil es heute völlig akzeptiert ist, dies zu tun. Und im Übrigen, meint er, gelte immer noch "Sex sells". Und je mehr Menschen darüber reden, umso besser für den Verkauf.
À propos. Auch die Filmrechte von "Shades of Grey" sind mittlerweile verkauft. Fünf Millionen Dollar sollen Universal Pictures und Focus Features dafür hingeblättert haben.