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Politik

Sexueller Missbrauch: Projekt Childhood-Haus

Ben Knight
2. Oktober 2020

In der deutschen Hauptstadt geht ein Behandlungszentrum für junge Missbrauchsopfer neue Wege. Vorbild ist ein innovatives Modell aus Skandinavien, das nur auf die Bedürfnisse und Erfahrungen des Kindes ausgerichtet ist.

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Deutschland Berlin Childhood Haus
Bild: Michael Bader/Childhood

Wer das Childhood-Haus in Berlin betritt, fühlt sich wie in einem Kindergarten: Es gibt Spielecken, Möbel in allen Farben und bequeme Sitze mit niedrigen Couchtischen. Doch wer genauer hinschaut, merkt doch, dass es alles andere als ein normaler Kindergarten ist.

Da ist zum einen der medizinische Bereich, zu dem auch Ärzte Zutritt haben. Und dann der Beratungsraum mit drei Kameras, offen für Polizisten, Sozialarbeiter und Richter, in dem auch Aussagen aufgezeichnet werden können, die normalerweise für einen Gerichtssaal bestimmt wären.

"Es gibt ein Kind in der Mitte, und dieses Kind ist das Zentrum aller anderen Interaktionen", sagt Astrid Helling-Bakki, Geschäftsführerin der World Childhood Foundation, die man im berühmtesten Krankenhaus Deutschlands, der Charité, findet. Die Ziele der Einrichtung: Den Heilungsprozess zu beschleunigen, der Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern kann. Und gleichzeitig den Stress und die Traumata des Opfers zu verringern.

Strafverfahren in Deutschland nicht vom "Kind her gedacht"

Helling-Bakki hat schon viele Kinder behandelt, die Opfer sexuellen oder körperlichen Missbrauchs wurden. Sie weiß, was alles auf sie einbricht, sobald der Missbrauch bekannt wird. "Die Kinder sind beunruhigt und eingeschüchtert, und verschiedene Erwachsene sprechen immer wieder mit ihnen", sagt die Kinderärztin. "Sie verstehen nicht, warum eine Person sie eine Sache fragt und eine andere Person in einem anderen Raum genau das gleiche. Sie fühlen sich oft missverstanden."

Ärzte und Sozialarbeiter kritisieren immer wieder, dass das deutsche System viel zu langsam und unflexibel für solche Fälle sei. "Manchmal dauert es zwei oder drei Jahre, bis ein Kind vor Gericht aussagen darf. Und Sie können sich vorstellen, dass ein siebenjähriges Kind nicht drei Jahre später so detailliert berichten kann, dass es dann auch zu einer Verurteilung kommt", sagt Sibylle Winter, stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie bei der Charité.

Deutschland Berlin Childhood Haus
Sieht auf den ersten Blick aus wie ein Kindergarten, ist aber viel mehr: das Childhood-HausBild: Michael Bader/Childhood

Außerdem sind die Strafverfahren in Deutschland nicht vom "Kind her gedacht, Kinderschutz ist kein zentrales Ziel der strafrechtlichen Abklärung, Deutschland bleibt hinter internationalen Vorgaben zurück", wie Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs, kritisiert. Der Täter kann sich vor Gericht auf die Unschuldsvermutung zurückziehen, außerdem müssen ihm die Taten zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Deutschland hinkt Skandinavien und den USA beim Opferschutz hinterher

Das Childhood-Haus ist ein neuer Ansatz, um Kindesmissbrauch hierzulande zu behandeln. Ein Modell, das in den USA (mit den sogenannten Child Advocacy Centers) und in skandinavischen Ländern (mit dem Barnahus-Modell) seit Jahrzehnten existiert. Und gleichzeitig eine Herausforderung für die deutsche Bürokratie ist.

Die Schwierigkeit des deutschen Systems liegt auch darin, dass Polizisten, Richter, Ärzte und Sozialarbeiter nicht unbedingt verpflichtet sind, über bestimmte Fälle miteinander zu kommunizieren. Während in einigen skandinavischen Ländern ein Therapeut oder Sozialarbeiter mutmaßlichen Missbrauch der Polizei melden muss, "besteht in Deutschland keine Verpflichtung, das Justizsystem mit einzubeziehen. Obwohl es natürlich ein Verbrechen ist", sagt Helling-Bakki.

In den USA muss jeder Kindesmissbrauch nicht nur gemeldet, sondern strafrechtlich verfolgt werden, während "in Deutschland die Tradition besteht, nicht strafrechtlich zu verfolgen, sondern der Schwerpunkt auf der Unterstützung des Opfers liegt", sagt Helling-Bakki. "In Deutschland will niemand strafrechtlich verfolgen. Ich denke aber, das eine sollte das andere nicht ausschließen."

Auch die deutschen Datenschutzgesetze können dabei im Wege stehen. Während Polizeibeamte und Sozialarbeiter des Jugenddienstes in skandinavischen Ländern jederzeit auf medizinische Berichte in Krankenhäusern zugreifen können, ist dies in Deutschland verboten.

Kooperation von Krankenhaus, Jugendamt, Gericht und Polizei

Das Childhood-Haus ist auch eine Herausforderung für Experten, die sich schon seit Jahren mit Kindesmissbrauch beschäftigen. "Es ist nicht nur interdisziplinär, sondern auch transdisziplinär", sagt Sibylle Winter. Fachkräfte aus vier verschiedenen Einrichtungen - Krankenhaus, Jugendamt, Gericht und Polizei - sind eng miteinander verzahnt und haben immer die Arbeit des anderen im Hinterkopf. "Das ist kompliziert", sagt Sibylle Winter.

Deutschland Berlin Childhood Haus
Im Idealfall arbeiten alle beteiligten Einrichtungen zusammenBild: Michael Bader/Childhood

Und sie schiebt gleich hinterher, wie eine Kooperation im Idealfall aussähe: Ein Arzt findet heraus, dass der Vater, der den Missbrauch an seinem Sohn begangen hat, unter Alkoholeinfluss stand. Früher konnte der Arzt nicht wissen, ob das Gericht auch davon Kenntnis hat. Durch die Kooperation über das Childhood-Haus wird das Gericht automatisch informiert und kann geeignete Schritte unternehmen. Zum Beispiel den Vater anweisen, an einem Reha-Programm teilzunehmen.

Das Childhood-Haus Berlin hat jedoch nur einen Fallbearbeiter, der die verschiedenen Institutionen in einem einzigen Raum koordiniert. Es ist jedoch geplant, sowohl Personal als auch Infrastruktur zu vergrößern – schließlich ist der Bedarf an solchen Institutionen riesig. "Ich sage immer, wir bräuchten ein Hochhaus mit zehn Stockwerken, mindestens", sagt Winter, die in ihrer Klinik jeden zweiten Tag ein Kind behandelt, das Opfer einer mutmaßlichen Vergewaltigung wurde.

Eine Million betroffene Kinder in Deutschland

Das Projekt Childhood-Haus in Berlin befindet sich noch in der Pilotphase und soll am 1. Januar 2021 offiziell an den Start gehen. Pläne für weitere Häuser in der Hauptstadt liegen bereits in der Schublade, in der ostdeutschen Stadt Leipzig und in Heidelberg in Süddeutschland existieren bereits Childhood-Häuser.

Geldgeber ist die World Childhood Foundation, eine Organisation, die von Königin Silvia von Schweden ins Leben gerufen wurde und außer in Schweden und Deutschland noch in Brasilien und den USA vertreten ist.

Die Weltgesundheitsorganisation, WHO, geht für Deutschland von einer Million betroffener Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder. Jüngste Fälle wie Bergisch Gladbach, wo Netzwerke von tausenden mutmaßlichen Tätern aufgedeckt wurden, zeigen, wie groß das Problem hierzulande ist.