Atalanta Bergamo: Wiederbeginn unter Protest
22. Juni 2020Der Platz vor dem Gewiss Stadium in Bergamo ist verwaist. Die Polizei hat ein Absperrband gezogen. Etwa 150 Ultras der Curva Nord versammeln sich vor einer Bar am Rande des Stadions, ihrem gewohnten Treffpunkt. Sie haben Transparente mitgebracht. Auf denen wird aber nicht ihr Herzensklub Atalanta gefeiert, sondern der Wiederbeginn der Serie A als "Schande" verurteilt. Und "Schande, Schande" skandieren die Ultras auch vor dem Stadiontor, als drinnen ihr Team das erste von insgesamt vier Toren erzielt. "Fußball ohne Fans ist kein Fußball" steht auf einem anderen Banner, das an einem Zaun vor dem Stadion hängt. Es verdeutlicht: Die Atalanta-Fans fühlen sich ausgeschlossen.
Derweil feiert die Sporttageszeitung "Gazzetta dello Sport" nach dem 4:1-Sieg gegen Sassuolo die "Tormaschine Atalanta" - ganz so, als stünde nur das sportliche Geschehen im Vordergrund. Der Neustart des Fußballs in Bergamo erzählt aber eine größere Geschichte. Denn zwischen dem letzten Sieg von Atalanta Bergamo, einem denkwürdigen 4:3 in der Champions League gegen Valencia, und dem frischen Erfolg gegen Sassuolo liegen 103 dramatische Tage - mit vielen Toten. Offenbar beschleunigt durch das Champions-League-Spiel wurde Bergamo zu einem Hotspot des Coronavirus. Armeelastwagen transportieren Hunderte Särge aus der Stadt, weil die Friedhöfe keinen Platz mehr boten. Die Stadt wurde zu einem Symbol der Pandemie. Knapp 6.000 Menschen starben allein im März in Bergamo, etwas mehr als 800 Tote wurden im gleichen Zeitraum im Vorjahr in der Provinz registriert. Es liegt nahe, die Differenz der mehr als 5.000 Toten im März dem Coronavirus zuzuschreiben.
Neustart im Trauermodus
"Wir haben alle jemanden verloren, Freunde, Bekannte, Verwandte", erzählt Sara Mazzoleni der DW. Sie betreibt den Kiosk gleich neben dem Stadion, an dem sich die Ultras regelmäßig treffen und von dem aus sie am Sonntag auch zu ihren Sprechchören aufbrachen. "Für die Profifußballer gibt es Tests in Hülle und Fülle. In den Krankenhäusern aber fehlen sie. Nicht einmal für alle Pfleger reicht es. Und das sind doch die, die einem in der Not helfen", sagt Mazzoleni. Wie kann man jetzt wieder Fußball spielen lassen? Mazzoleni und viele ihrer Kunden sehen darin einen Mangel an Respekt gegenüber den Toten.
Wer durch den Fußball sein Geld verdient, sieht dies anders. "Was geschehen ist, kann niemals rückgängig gemacht werden. Es hat unsere Leben komplett verändert. Über den Fußball wollen wir jetzt ein Lächeln in die Stadt bringen, die so sehr geschädigt wurde", versuchte Atalanta-Coach Gian Piero Gasperini eine Brücke zu den kritischen Anhängern zu bauen. Gasperini war selbst am Coronavirus erkrankt. Dass er offenbar bereits infiziert zum Rückspiel des Champions League-Achtelfinals nach Valencia reiste, löste in Spanien Zorn aus. Der Coach verteidigte sich: "Ich weiß, dass ich alle Protokolle beachtet habe. Ich habe damals keinen Abstrichtest gemacht. Und erst im Mai, als wir die Antikörpertests gemacht haben, habe ich festgestellt, dass ich den Virus hatte." Gasperinis Beispiel zeigt, wie sorglos zu Beginn der Pandemie mit dem Virus umgegangen wurde. Seine Aussage legt auch nahe, dass viel zu spät mit Tests begonnen wurde.
Rückblick auf das Spiel Null
Auch die Fans nahmen in jenen Zeiten das Virus nicht ernst. 45.000 Bergamasken, wie die Einwohner von Bergamo genannt werden, reisten am 19. Februar zum Champions League-Hinspiel gegen Valencia ins Stadion Siro in Mailand. "Das Virus war damals eine Sache aus China. Wir waren hingerissen von dem Spiel. Die Atalanta war ja neu in der Champions League. Wir wussten nicht genau, was unser Team leisten kann. Aber dann fiel ein Tor, das zweite, das dritte, das vierte. Wir haben geheult vor Glück, und wir wussten, wir können später unseren Kindern erzählen: 'Wir waren dabei'", erinnert sich Alessandro Pezzotta, Präsident eines Atalanta-Fanclubs, gegenüber DW.
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Jetzt kann Pezzotta erzählen, dass er beim Spiel Null dabei war, das Experten als ein Treiber der Pandemie in ganz Italien gilt. Angesteckt hat sich Pezzotta selbst dort nicht. Er kenne auch niemanden, dessen Infektion auf das Spiel zurückzuführen sei. Freunde verloren hat er dennoch. Auch einige Tifosi sind dabei, ebenso zwei Ordner. Pezzotta ist selbst Ordner und er gehört zu den etwa 20 von sonst 200, die auch an diesem Sonntag ins Stadion durften. "Wir kümmern uns jetzt nicht um die Sicherheit, sondern sind für die Journalisten und Kameraleute da", erklärt er. Ausfüllen musste er ein Dokument, dass er nicht an Covid-19 erkrankt ist. Er rückte mit Maske an, am Stadiontor wurde Fieber gemessen. Die Profis kamen im Bus. Sie hatten die Nacht vor dem Spiel im Trainingszentrum Zingonia verbracht. Nach Schlusspfiff wurden einige von ihnen von ihren Familienangehörigen abgeholt und nach Hause gebracht. Am Tag vor dem Spiel sah man Innenverteidiger José Palomino munter durch die Innenstadt Bergamos flanieren. Die Lagerbildung, die noch in der Vorbereitung auf den Neustart geschrieben war, gilt offensichtlich nicht mehr.
Beispiel Bundesliga
Gelockert wurde auch die Quarantäneregeln. Bis vor wenigen Tagen galt noch, dass bei einem positiven Fall im Team das ganze Team in Quarantäne muss. Jetzt aber können die anderen Spieler bei eigenen negativen Tests weiter am Wettkampfbetrieb teilnehmen. Die Bundesliga wies hier den Weg. Die Lockerung erfolgte auch, weil sich die Situation insgesamt gebessert hat. Nur noch 31 neue positive Fälle gab es am Samstag im einstigen Hotspot Bergamo - gegenüber rund 300 positiven Fällen pro Tag Mitte März.
In diesen kritischen Zeiten leisteten auch viele Fans ihren Beitrag beim Eindämmen der Pandemie. "Viele Fanklubs stellten Masken her. Ein Klub zerschnitt dafür sogar die alten Banner für die Stadionchoreografie. Das Geld wurde an Krankenhäuser und karitative Organisationen gespendet", erzählt Pezzotta. Einige Ultras der Curva Nord beteiligten sich auch am Aufbau des provisorischen Krankenhauses auf dem Messegelände von Bergamo. Das ist eine Art Monument der Zivilgesellschaft. Denn das Krankenhaus wurde komplett von freiwilligen Helfern aufgebaut und weitgehend aus Spenden finanziert.
Der Fußball hat diese Bindungskraft gegenwärtig nicht. Wer aus dem Stadion kam, wirkte ernüchtert. Atalanta ist nicht mehr die Herzensangelegenheit, die es vor der Krise für viele Bergamasken war. Die Ultras hatten schon mitten in der zweiten Halbzeit ihre Bar am Stadion verlassen. Nicht einmal einen Fernseher hatten sie während des Spiels eingeschaltet.