Mehr Normalität
17. August 2014DW: Yascha Mounk erzählt in seinem Buch "Stranger in My Own Country" über seine Erlebnisse als Jude in Deutschland. Heute lebt er in den USA. Er fordert mehr Normalität im Umgang. Was müssen wir dafür tun?
Rafael Seligmann: Eine Gesellschaft wird nie perfekt sein, solange es Menschen gibt. Wenn ich die Wahlresultate der NPD mit knapp einem Prozent bei der Europawahl ansehe, und mit denen der faschistischen und populistischen Parteien in Ungarn, Griechenland und Frankreich vergleiche, dann ist Deutschland in einer komfortableren Situation. Für mich ist der Umgang von Juden und Nichtjuden miteinander entscheidend, das permanente Gespräch ist wichtig. Ein Beispiel: Als ich 1983 meinen ersten Roman "Rubinsteins Versteigerung" schrieb, war er der erste deutsch-jüdische Gegenwartsroman. Damals hatten alle Angst davor: die Juden, die mich als Nestbeschmutzer bezeichneten, und die Nichtjuden, die dachten, das, was ich schrieb, könnte als Antisemitismus ausgelegt werden. Heute ist deutsch-jüdische Gegenwartsliteratur normal. Es gibt ein gutes Sprichwort: "Nur wenn Du weißt, was mir weh tut, dann liebst Du mich." Der Antrieb, den anderen kennenzulernen, seine Ängste zu ergründen, mit ihm zu sprechen, das ist für mich das Rezept, um Normalität herzustellen.
Sie sind 1957 mit ihrer Familie von Israel nach Deutschland eingewandert. Damals waren Sie zehn Jahre alt. Wie haben Sie das Nachkriegsdeutschland damals erlebt? Wie hat sich das heute gewandelt?
Die sozialen Beziehungen haben sich im Vergleich zu damals normalisiert. Als wir nach Deutschland kamen, erzählten uns die meisten, die bemerkten, dass wir Juden sind - damals wusste man noch, dass der Name Seligmann jüdisch ist -, dass sie Juden gerettet hätten. Man gab vor, Juden zur Ausreise verholfen, sie gewarnt, sie versteckt zu haben. Auf der anderen Seite erlebte ich ständige Vorurteile in der Schule. Das Wort "Sau-Jude" stand auf der Tagesordnung. Weil die Kinder den Antisemitismus der Erwachsenen übernommen hatten. Das ist heute wesentlich besser geworden. Wenn jemand hört, dass ich Jude bin, dann ist das vielen gleichgültig, was ich gut finde. Der eine ist eben Jude, der andere ist Christ, der nächste ist Moslem, der übernächste Buddhist.
Heute sucht man sich andere Ventile, um Vorurteile gegen Juden zu äußern, zum Beispiel übertriebene Israel-Kritik. Da man sich hierzulande nicht traut, Juden zu kritisieren, wird diese Kritik an Israel zum Ausweg, um Unzufriedenheit zu äußern. Auf einem Fest eines Vereins gegen Rassismus wurde ich letztens mehrfach folgendermaßen auf Israel angesprochen: "Ihr Land" und "ihr Präsident", hieß es da. Oder: "Warum bauen Sie Siedlungen? Denken Sie nicht an die Palästinenser?" Ich bin Deutscher.
Was antworten Sie in so einem Fall?
Ich entgegne: Wieso fragen Sie ausgerechnet mich? Wieso interessieren Sie sich unter 53 Staaten in der Region ausgerechnet für Israel? Meiner Meinung nach hat das alles mit etwas anderem zu tun. Die Deutschen haben gelernt, mit den Verbrechen von damals zu leben. Aber mit den heute lebenden Juden ist das schwieriger. Doch die Geschichte hat einen langen Atem und Normalität lässt sich nicht verordnen, und wenn sie verschrieben wird, wirkt sie nicht. Antisemitismus gibt es auf der ganzen Welt. Nicht nur in Deutschland.
Sie sagen, dass Sie Deutscher sind und sehen Deutschland als Ihre Heimat. Wie haben Sie damals Ihre Identität in Deutschland gefunden?
Irgendwann habe ich mir, trotz der Vorurteile, die ich erleiden musste und muss, gesagt: Vorurteile gibt es auf der ganzen Welt. Ich lebe in Deutschland, habe einen deutschen Pass, spreche Deutsch, kenne die deutsche Geschichte und lebe in der deutschen Kultur - daher bin ich Deutscher. Die Identitätsdiskussion, die wir in Deutschland haben und in einem großen Maßstab betreiben, ist ein Luxusproblem. Eines von Wohlstandsländern.
Anfang 2012 haben Sie die Zeitung "Jewish Voice from Germany - Die englischsprachige Brücke zwischen Deutschland und den Juden in aller Welt" gegründet, die sich vorwiegend an ein amerikanisches Publikum richtet. Wie schlagen Sie diese Brücke?
Ich wollte zeigen, dass die deutsch-jüdische Kultur eine Renaissance erlebt. Das Judentum, das wissen die wenigsten Leute in Deutschland, ist Teil der deutschen Geschichte. Heinrich Heine, Albert Einstein, Mendelssohn und unzählige andere - sie waren alle Juden. Die deutsch-jüdische Geschichte ist untrennbar. Im Deutschen gibt es sehr viele Begriffe, die aus dem Hebräischen oder Jiddischen kommen. Die jiddische Sprache besteht zu einem großen Teil aus deutschem Vokabular und wird mit hebräischen Buchstaben geschrieben. Die wichtigsten Schriften des Zionismus, also der Grundlage Israels, sind von einem österreichischen Juden, Theodor Herzl, in deutscher Sprache geschrieben worden.
Ich möchte mit der Zeitung zeigen, dass Deutschland im Umbruch ist. Das ist keineswegs nur ans Ausland gerichtet. Wir berichten aber auch in Englisch, um es in der ganzen Welt verständlich zu machen. Wir lassen in Amerika drucken, aber seit einem Jahr haben wir auch eine deutsche Ausgabe. Sie erscheint als Teil der Zeitung "Die Welt".
Der Titel Ihrer Autobiografie heißt "Deutschland wird dir gefallen". Würden Sie jüdischen Angehörigen im Ausland empfehlen, nach Deutschland zu kommen?
Selbstverständlich. Genauso wie ich hier Freunden empfehle, nach Israel zu reisen, um sich selbst ein Urteil zu bilden, lade ich auch Freunde aus Israel ein. Egal, ob Juden oder Nichtjuden. Es muss ja an irgendetwas liegen, dass wir nach den Vereinigten Staaten das zweitgrößte Zuwanderungsland sind. Das hat mit Wohlstand zu tun, aber auch mit einer gewissen Toleranz in Deutschland, mit sozialen Maßnahmen, mit dem Zugehen auf Minderheiten. Die Geschichte lässt sich zwar nicht im Zeitraffer beschleunigen, wir müssen an unserer Gesellschaft arbeiten, aber im internationalen Vergleich stehen wir gut da. Wir sollten unsere Erfolge nicht verstecken. In Berlin leben heute 15.000 Israelis. Die kommen offenbar hierher, weil sie sich wohlfühlen. Der Bundespräsident hat vor kurzem in einer Rede im kleinen Kreis gesagt, wir dürfen auf diese Fortschritte durchaus stolz sein. Das gehört auch dazu.
Das Interview führte Ananda Grade.
Rafael Seligmann wurde 1947 in Israel geboren und lebt seit 1957 in Deutschland. Der promovierte Politologe und Publizist zählt zu den Begründern der deutsch-jüdischen Literatur der Nachkriegsjahre. Er schrieb mehrere deutsch-jüdische Gegenwartsromane, darunter "Der Musterjude" und "Der Milchmann". Anfang 2012 hat er die Zeitung "Jewish Voice from Germany - Die englischsprachige Brücke zwischen Deutschland und den Juden in aller Welt" gegründet.