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PolitikEuropa

Tschechien übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft

30. Juni 2022

Die russische Aggression gegen die Ukraine, die Energiekrise, der Klimawandel und ein Gipfeltreffen europäischer Staaten: Das sind die Schwerpunkte der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft.

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Der tschechische Regierungschef Petr Fiala spricht bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung der tschechischen Pläne für die EU-Ratspräsidentschaft vor dem Hintergrund des tschechischen Logos, einem Kreis mit 27 bunten Rauten
Regierungschef Petr Fiala spricht am 15.6.22 über die tschechische RatspräsidentschaftBild: Roman Vondrous/CTK/picture alliance

Ab Juli 2022 wird Europa von zwei ehemaligen Universitätsrektoren geführt werden: Der tschechische Premierminister Petr Fiala ist Politikwissenschaftler und war von 2004 bis 2011 Rektor der Masaryk-Universität in Brünn. Sein Freund, der Musikwissenschaftler Mikulas Bek, leitete die Hochschule von 2011 bis 2019 und ist heute Minister für Europa. Unter ihrer Leitung zählte die Masaryk-Universität zu den besten Hochschulen der Welt und erreichte in der Beliebtheit bei Studenten das Niveau von Universitäten in Berlin oder Wien.

Ihre Erfolge als Rektoren der zweitgrößten Universität Tschechiens wollen Fiala und Bek nun in der EU wiederholen. Die Tschechische Republik, die am 1. Juli 2022 den EU-Ratsvorsitz übernimmt, soll sich als Teil Westeuropas präsentieren - nicht als Teil Osteuropas. "Ich würde mich sehr freuen, wenn unsere EU-Präsidentschaft dazu führen würde, dass wir nicht mehr als ein Land wahrgenommen werden, das den Westen einholen möchte, sondern als ein EU-Staat ohne Wenn und Aber", so Mikulas Bek gegenüber der DW. "Um dies zu tun, reicht es aus, die Rolle des vorsitzenden Landes professionell auszuüben."

Tschechien Mikulas Bek, Minister für europäische Angelegenheiten, spricht zu Reportern, die ihm Mikrofone hinhalten
Mikulas Bek, tschechischer Minister für europäische AngelegenheitenBild: Regierung der Tschechischen Republik

Es werde von kleinen Dingen wie der Pünktlichkeit bei EU-Verhandlungen abhängen, ob Tschechien als "normales” EU-Land wahrgenommen werde wie Dänemark oder Schweden. Diese Länder dominierten die EU-Debatte nicht wie die Franzosen oder die Deutschen, sondern verstünden es, sie zu moderieren.

Die Ukraine als oberste Aufgabe

Prag ist sich bewusst, wie sehr seine Leistung an der Spitze der Europäischen Union von der russischen Aggression gegen die Ukraine und deren Auswirkungen auf die Union und die Welt bestimmt wird. "Es ist nicht so, dass die Ukraine alle anderen Themen verdrängt hat, sondern eher, dass damit ein weiterer großer Brocken hinzugekommen ist", so Bek. Nach Polen ist die Tschechische Republik in der EU wahrscheinlich am stärksten an der Unterstützung des von Russland angegriffenen Landes beteiligt. So liefert sie Kiew Waffen, einschließlich Panzer und Hubschrauber, und hat 350.000 Flüchtlinge aufgenommen.

Im Hinblick auf den kommenden Winter steht nach Ansicht des tschechischen Europaministers vor allem die Bewältigung der von Moskau verursachten Energiekrise im Mittelpunkt. "Das ist eine zentrale Aufgabe, die über die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union entscheiden wird", so Bek. "Dies wird ein noch größerer Test für die EU sein als die Bewältigung der Corona-Krise." Es sei entscheidend, dass die EU in der Lage sei, angemessene Kapazitäten für Flüssiggasterminals und Transportrouten bereitzustellen.

Fünf Prioritäten

Dem entsprechen die fünf Prioritäten der tschechischen Präsidentschaft, die Premierminister Petr Fiala Mitte Juni 2022 vor Journalisten in Prag vorgestellt hatte. Dazu gehören die Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg, die Energiesicherheit, die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten und die Sicherheit des Cyberspace, die strategische Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und die Widerstandsfähigkeit der demokratischen Institutionen. Das Motto der tschechischen Ratspräsidentschaft ist ein Zitat des ehemaligen Präsidenten Vaclav Havel: "Europa als Aufgabe". 

Europaminister Bek (links) und Premierminister Fiala (rechts) sprechen bei einer Pressekonferenz am 15.6.22 in Prag
Premierminister Fiala und Minister Bek stellen am 15.6.22 in Prag ihr Programm für die EU-Ratspräsidentschaft vorBild: Roman Vondrous/CTK/picture alliance

"Europa, und damit die ganze Welt, befindet sich in einem grundlegenden Wandel, denn der russische Einmarsch in der Ukraine hat viele unserer Sicherheiten erschüttert", sagte Fiala vor Reportern und erklärte, dass an einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa gearbeitet werden müsse. Die Tschechische Republik sei sich auch bewusst, dass die Aufgabe, die EU zu führen, nicht darin bestehe, tschechische Interessen zu fördern. "Die Aufgabe der tschechischen Präsidentschaft wird vor allem darin bestehen, in den einzelnen Bereichen einen Konsens und die so wichtige europäische Einheit zu erreichen", so Fiala weiter.

Megagipfel in Prag

Obwohl es der französischen Ratspräsidentschaft auf dem EU-Gipfel im Juni 2022 bereits gelungen ist, der Ukraine und der Republik Moldau den Kandidatenstatus zu verschaffen, wird die Frage der EU-Erweiterung und der Zusammenarbeit mit den Nachbarländern der EU auch im Mittelpunkt des wichtigsten informellen Gipfels der tschechischen Ratspräsidentschaft stehen. Er wird im Oktober 2022 in Prag stattfinden und das größte Treffen dieser Art überhaupt sein, denn es sollen nicht nur die EU-Mitgliedsstaaten teilnehmen, sondern auch andere europäische Länder, "von Island bis zur Ukraine  unabhängig davon, ob sie Mitglieder der EU sind", so Fiala auf seiner Facebook-Seite. Der Regierungschef ist überzeugt: "Es ist eine Herausforderung für uns, aber wir werden sie meistern."

Stadtansicht von Prag mit der Karlsbrücke über die Moldau im Vordergrund
In der tschechischen Hauptstadt Prag wird im Oktober 2022 ein europäischer Mega-Gipfel stattfindenBild: Stephan Schulz/dpa-Zentralbild/picture alliance

Die Tschechische Republik kann damit indirekt an ihre letzte EU-Präsidentschaft im Jahr 2009 anknüpfen, als in Prag der Gründungsgipfel der Östlichen Partnerschaft stattfand, der die Zusammenarbeit zwischen sechs postsowjetischen Ländern (Ukraine, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan) und der EU eröffnete.

Krisenmanagement

Nach Ansicht von Beobachtern wird der Schlüssel zum Erfolg der tschechischen Präsidentschaft darin liegen, ob sie in der Lage sein wird, die Ukraine weiterhin massiv zu unterstützen, dafür zu sorgen, dass sie den Krieg mit Russland nicht verliert und die Auswirkungen der Krisen, die Russlands Aggression verursacht, zu bewältigen. Daneben wird die Tschechische Republik auch die Debatte um die Verabschiedung der legislativen Schritte des Klimaplans Fit for 55 moderieren. "Es reicht aus, wenn wir unsere grundlegenden Ziele erreichen - der Ukraine zu helfen, die Flüchtlingskrise zu bewältigen und die Energiekrise zu lösen", sagt Helena Truchla, leitende Analystin bei der Denkfabrik Tschechische Interessen in der EU (Ceske zajmy v EU), im Gespräch mit der DW.

Ein Kreis aus 27 bunten Rauten bildet das Logo der tschechischen Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli 2022 beginnt
Das Logo der tschechischen EU-RatspräsidentschaftBild: Roman Vondrous/CTK/picture alliance

Kurz vor Beginn der Präsidentschaft wurde die tschechische Regierung jedoch von einem Korruptionsskandal im Prager Rathaus erschüttert, in den Politiker von STAN, der zweitgrößten Partei in der Fünfparteien-Koalition verwickelt sind. Das erinnerte an die Situation im Jahr 2009, als die Regierung von Mirek Topolanek mitten in der ersten tschechischen Ratspräsidentschaft stürzte. Die Krise in Prag sollte durch den raschen Rücktritt des Bildungsministers und stellvertretenden STAN-Vorsitzenden Petr Gazdik beigelegt werden. "Ich will die Regierung oder die Koalition an der Schwelle zur EU-Präsidentschaft nicht gefährden", begründete Gazdik selbst sein Ausscheiden aus der Regierung, obwohl er selbst sich in der Angelegenheit nichts vorzuwerfen habe. Im Unterschied zu 2009, als Regierungschef Topolanek über keine eigene Mehrheit im Parlament verfügte, können sich die tschechischen Regierungsparteien diesmal auf eine stabile Mehrheit von 108 der 200 Abgeordneten stützen.

Porträt eines Mannes mit blondem Haar, er trägt ein weißes Hemd und ein blau-schwarz kariertes Sakko
Lubos Palata Korrespondent für Tschechien und die Slowakei, wohnhaft in Prag