Wieviel Kontext verträgt ein Vertriebener?
20. September 2010Der grauhaarige Senior grummelt schon eine Weile leise vor sich. Er folgt einer Besuchertruppe durch das Deutsche Historische Museum in Berlin. "Die zwei Millionen Toten muss man doch zu den Vertriebenen dazurechnen", ruft er dem Tour-Guide zu. Ein paar Meter weiter, kurz hinter einem hölzernen Leiterwagen, vermisst er Augenzeugenberichte. "Das ging doch um Leben und Tod", bekräftigt er, "ich war doch dabei!" Ein anderer Besucher ist irritiert darüber, dass die Schicksale der Schlesier unmittelbar nach den jüdischen Vertriebenen der Nazizeit behandelt werden.
Die Führung hat das Thema "Flucht, Vertreibung, Integration." Ein weitgespannter Bogen von den Hugenotten, die 1680 aus Frankreich vertrieben wurden, über die deutschen Flüchtlinge aus den Ostgebieten bis hin zu den Arbeitsmigranten der Nachkriegszeit. Wie viele ähnlich ausgerichtete Ausstellungen zeigt sie, wie schwierig es ist, breite Akzeptanz bei einer musealen Realisierung von Zwangsmigration zu erreichen.
Brisantes Thema
Mit der Herausforderung Zwangsmigration darzustellen, ringen Ausstellungsmacher und Museumsleute weltweit. Es geht um die Schwierigkeit, den richtigen Kontext für die betreffende Vertreibung zu finden. Die Schwierigkeit erhöht sich dort, wo aus Tätern Opfer werden, die wiederum von ihren ehemaligen Opfern vertrieben werden. "Die Betroffenen von Vertreibungen haben ja immer eine ziemlich eigene und subjektive Sicht auf die Vorgänge", sagt der Historiker Manfred Kittel, "und die deckt sich eben kaum mit der Position in den Gegenden, die früher ihre Heimat war." Kittel erlebt derzeit als Direktor der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung", wie unterschiedliche Positionen von Juden, Polen und deutschen Vertriebenen aufeinandertreffen.
Zuletzt kündigte der Zentralrat der Juden seine Mitarbeit im Stiftungsrat auf, weil er sich mit revanchistischen Ansichten von Vertriebenenvertretern konfrontiert sah. Als die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, ihre Vereinskollegen in Schutz nahm, war der politische Eklat um die Stiftung komplett. Kittel hofft seither, alle wieder durch ein gutes Ausstellungskonzept an einen Tisch zu bringen.
Minenfeld für Ausstellungsmacher
Rat kann er sich derzeit bei Ausstellungsmachern und Museumsleuten holen, die sich in Berlin bei einem Fachkongress mit der Thematik "Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberung" auseinandersetzen. Bei ihren Diskussionsrunden und Vorträgen fällt immer wieder der Begriff vom Minenfeld, um die Brisanz der Fragestellung zu illustrieren. Sie entsteht durch den Versuch, einen passenden Kontext für eine Vertreibung zu finden. "Da muss sich der Ausstellungsmacher natürlich fragen, wie weit der gesteckt wird", sagt Katharina Klotz. Sie hat für die Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen" vor vier Jahren die viel diskutierte Ausstellung "Erzwungene Wege" gestaltet. Sie fragt sich, ob man Dinge, die in einem Raum zusammen dargestellt werden, überhaupt miteinander vergleichen dürfe: "Darf man das Leid der Deutschen kontextualisieren?"
Hans Ottomayer, der Präsident der Stiftung "Deutsches Historisches Museum" ist etwas genervt über die Diskussion, die in Deutschland über Kontexte und Vergleiche geführt wird. "Das ist eine typisch deutsche Unsitte, wenn jemand etwas miteinander vergleicht, zu unterstellen, man habe durch den Vergleich gleichgesetzt." Der Vergleich sei ein erprobtes wissenschaftliches Instrumentarium, betont Ottomayer, "um die Unterschiede klarer zu sehen". Ottomayer erlebt in diesen Tagen, wie die Diskussion um die richtige Darstellung des Gedenkens an die Zwangsmigration während und nach der Nazidiktatur sein Haus erreicht: Es bietet schließlich den Rahmen für die ständige Ausstellung des Dokumentationszentrums der Stiftung "Flucht Vertreibung Versöhnung". Deren Konzept wird mit Spannung erwartet - und wohl wiederum einen heftigen Schlagabtausch nach sich ziehen.
Autor: Heiner Kiesel
Redaktion: Klaus Gehrke