Lehrermangel: Schulen in Not
28. Januar 2023Würde das deutsche Bildungssystem benotet, bekäme es wohl ein "mangelhaft". Es gibt Schulen, in denen der Putz von den Wänden bröckelt, Toiletten verwahrlost und Turnhallen wegen Reparatur-Arbeiten geradezu dauergesperrt sind. Unterrichtsstunden fallen regelmäßig aus. Und mit der dringend benötigten Digitalisierung geht es bestenfalls in Trippelschritten voran. Immer mehr Schüler drohen den Anschluss zu verlieren. Die Corona-Krise deckte das Versagen in den Klassenzimmern endgültig auf. Und das ausgerechnet im vergleichsweise wohlhabenden Deutschland.
Die Schulen als Stellvertreter für die deutsche Infrastrukturkrise
Die Bildungsmisere ist nicht nur Folge von Misswirtschaft und Fehlplanung, sondern auch wesentlicher Gradmesser der bundesrepublikanischen Infrastrukturkrise. Dabei sind die Anforderungen an die Schulpolitik gestiegen, soll sie doch helfen, gesellschaftliche Aufgaben zu meistern - wie bei der Integration und der demokratisch-gesellschaftlichen Erziehung.
Am meisten leiden die Schulen unter massivem Lehrermangel. "Aktuell gehen wir von 30.000 bis 40.000 Stellen aus, die nicht besetzt sind. Laut Kultusministerkonferenz fehlen 12.000 Stellen. Es gibt eine große Differenz in der Einschätzung", sagt die Leiterin des Bereichs Bildung der Robert-Bosch-Stiftung, Dagmar Wolf, der Deutschen Welle.
Der Deutsche Lehrerverband erklärt den Unterschied damit, dass die Zahlen der Kultusministerkonferenz geschönt seien. In vielen Bundesländern würden die Stunden am Anfang des Schuljahres je nach Lehrermangel gestrichen, so dass der Bedarf nur auf dem Papier gedeckt sei, wird der Verband in einem Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) zitiert. Manchmal würden auch Eltern oder andere Nichtpädagogen als sogenannte Schulhelfer eingesetzt und in der Statistik als Lehrkräfte verrechnet. Nach den in diesen Januar veröffentlichten Zahlen der Kultusministerkonferenz waren in Deutschland 2021 insgesamt knapp 833.000 Lehrkräfte beschäftigt.
"Größter Lehrermangel in Deutschland seit 50 Jahren"
"Die Alarmglocken klingeln schon lange. Wir haben einen Lehrkräftemangel seit zehn Jahren. Allerdings kann ich mich nicht an eine solche Dramatik und Schärfe erinnern, wie wir sie jetzt erleben. Und ich bin schon lange im Geschäft", sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, im DW-Gespräch. Nach seiner Einschätzung ist es "der größte Lehrkräftemangel seit 50 Jahren".
Und so sehen zwei Drittel (67 Prozent) der Schulleitungen im fehlenden pädagogischen Personal die größte Herausforderung. Das ergab das vor wenigen Tagen veröffentlichte Deutsche Schulbarometer der Robert-Bosch-Stiftung. An sozial benachteiligten Standorten sagten dies sogar 80 Prozent.
Die weiteren Probleme wirken im Vergleich dazu fast nebensächlich. Genannt wurden in der Studie unter anderem die schleppend vorankommende Digitalisierung (22 Prozent), zu viel Bürokratie (21 Prozent) und eine hohe eigene Arbeitsbelastung (20 Prozent). Für das repräsentative Schulbarometer befragte das Meinungsforschungsinstitut Forsa zwischen Ende Oktober und Mitte November vergangenen Jahres 1055 Schulleitungen online.
Lehrerverbands-Chef Heinz-Peter Meidinger sieht drei wesentliche Ursachen für die pädagogische Misere. Erstens habe die Politik zu spät auf den seit zwölf Jahren anhaltenden Geburtenanstieg reagiert. Zweitens habe man zugelassen, dass in den letzten 20 bis 30 Jahren massiv Lehramtsstudienplätze abgebaut worden seien. "Und drittens: Es gab Flüchtlingsbewegungen. Wie jetzt aus der Ukraine mit 200.000 Kindern innerhalb eines Jahres zusätzlich. Darauf waren die Schulen nicht vorbereitet."
Wie viele Lehrer allein für diese Schüler notwendig sind, berechnete das Institut der deutschen Wirtschaft: Wenn 3,5 Prozent der rund 7,5 Millionen ukrainischen Kinder und Jugendlichen nach Deutschland kommen, was 261.000 Minderjährigen entspricht, sind demnach 13.500 zusätzliche Lehrer nötig. Bei einer Fluchtquote von fünf Prozent - also für 373.000 minderjährige Flüchtlinge - seien 19.400 mehr Pädagogen erforderlich als bisher.
Bis zu 80.000 unbesetzte Lehrerstellen bis 2030
Dabei steht der größte Lehrermangel erst bevor. "Wir gehen in eine Zeit, in der die Babyboomer-Generation kurz vor dem Ruhestand ist. Das wird die Situation dramatisch verschärfen", sagt Dagmar Wolf. Nach Einschätzung von Forschenden "werden wir bis zum Jahr 2030 mehr als 80.000 vakante Stellen im Lehrberuf haben". Zusätzlich fehlten Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen und Schulbegleiter, um die Inklusion voranzutreiben. Das Ziel der Inklusion ist, dass jeder Mensch akzeptiert wird und gleichberechtigt sowie selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben kann - unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft oder Gesundheitszustand.
Wolf diagnostiziert "akuten Handlungsbedarf". Das gilt auch für die Zusammenarbeit der 16 Bundesländer, die im föderalen Deutschland jeweils für Bildung zuständig sind. In der Ständigen Konferenz der Kultusminister wird die Bildungspolitik zwar gemeinsam koordiniert. Gleichzeitig verfolgen die Bundesländer durchaus egoistische Ziele, wenn es darum geht, die besten Lehrer für sich zu gewinnen. "Wenn man sich Bayern anschaut, dann ist es eine Strategie von Ministerpräsident Markus Söder, im nächsten Jahr zu versuchen, möglichst viele Lehrkräfte aus anderen Bundesländern abzuwerben", sagt Wolf. Die Bundesländer machten sich also eher gegenseitig Konkurrenz.
Aber wie gelingt es, den Lehrberuf attraktiver zu machen? Beispielsweise durch einen Abbau der ausufernden, abschreckenden Bürokratie: "Wenn man Lehrkräfte fragt, was sie sich am meisten wünschen, dann ist es nicht mehr Gehalt, sondern mehr Zeit für ihre Kernaufgaben", sagt der Pädagoge Heinz-Peter Meidinger. Den Kolleginnen und Kollegen würden immer mehr Zusatzaufgaben aufgebürdet. Es müssten Statistiken geführt werden, Büchergeld eingesammelt, Klassenfahrten organisiert und zusätzliche Projekte übernommen werden. "Natürlich erfordert auch die Digitalisierung einen hohen Aufwand an Fortbildung und an Unterstützung, die häufig fehlt."
Ein 15-Punkte-Plan für mehr Lehrkräfte in Deutschland
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) schlägt unter anderem vor, Ruheständler weiter zu beschäftigen. Außerdem empfehlen sie eine Begrenzung der Teilzeitarbeit. "49 Prozent der Lehrkräfte arbeiten in Teilzeit, hier liegt das größte Potenzial, Ressourcen zu erschließen", heißt es in einer Pressemitteilung der Kommission.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW, wandte sich mit einem "15-Punkte-Plan gegen den Lehrkräftemangel" an die Politik. So sollen mit der Einstellung von Verwaltungskräften und IT-Fachleuten "Lehrkräfte von fachfremden Aufgaben entlastet werden". Einige weitere Vorschläge: höhere Gehälter, Qualifizierung von Quereinsteigern, bessere Ausstattung der Schulen, Ausbau von Studienplätzen und Abschaffung von Studienbeschränkungen.
Auch "Nachhilfe" aus dem Ausland ist der GEW willkommen: Abschlüsse anderer Staaten sollen leichter anerkannt werden. Nach den letzten Zahlen der Kultusministerkonferenz stammen die meisten Lehrer mit ausländischer Staatsangehörigkeit bisher erwartungsgemäß aus Europa. An der Spitze steht Frankreich (939) vor Polen (810) und Italien (738).
Ausländische Lehrkräfte stehen vor bürokratischen Hürden
"Das Problem ist nicht, dass sich zu wenige bewerben, sondern dass ausländische Lehrkräfte in Deutschland aufgrund des sehr schwierigen Anerkennungsverfahrens kaum eine Chance haben", sagt Dagmar Wolf von der Robert-Bosch-Stiftung. Die Lehrtätigkeit setze eine formalisierte berufliche Anerkennung des jeweiligen ausländischen Abschlusses voraus.
"Wir haben im Föderalismus das Problem, dass es keine einheitliche Regelung gibt, sondern dass die Bundesländer das sehr individuell regeln." Dementsprechend gebe es zwar ein großes Interesse von Menschen, die im Ausland einen Abschluss erworben hätten, "aber am Ende landen nur sehr, sehr wenige aufgrund der bürokratischen Hürden im System".
Angesichts des Lehrermangels stellt Wolf der Export- und Wissensnation Deutschland, deren wichtigster Rohstoff die Bildung ihrer Bürger ist, ein miserables Zeugnis aus: Deutschland sei nicht nur versetzungsgefährdet, "sondern schon durchgefallen", urteilt sie. "Allerdings hat so mancher Sitzenbleiber später doch noch Karriere gemacht."