Schichtarbeit statt Schulpflicht
4. Dezember 2017Es ist acht Uhr morgens. Dumpf dringt das Rattern der Nähmaschinen auf die Straße. Aras Ali eilt die Treppen hinab und taucht ein in das grelle Neonlicht. Sie kommt pünktlich zu Schichtbeginn. Aras ist 11 Jahre alt - und die Schneiderei im Istanbuler Stadtteil Bağcılar ist ihr Arbeitsplatz.
Wie die anderen Kinder dort muss Aras dafür sorgen, dass die Näherinnen immer Nachschub haben. Mit einer Schere schneidet sie den farbigen Fabrikstoff auseinander und sortiert ihn so, dass die einzelnen Stoffteile für die ratternden Maschinen bereit liegen. Die Frauen nähen daraus Damenunterwäsche.
Schneiden, stapeln, schneiden, stapeln. Zwölf Stunden am Tag, von Montag bis Freitag, für umgerechnet 153 Euro im Monat. Vor vier Jahren floh Aras mit ihrer Familie aus dem nordsyrischen Afrin in die Türkei, zunächst nach Gaziantep, später nach Istanbul.
"Die Miete, das Essen, die Wasserrechnung - das ist hier alles so teuer", sagt das Mädchen. "Meiner Mutter geht es nicht gut und eine meiner Schwestern ist krank, deshalb muss ich arbeiten, um ihnen zu helfen." Es sind Sätze, die man von fast allen Kindern in dieser Schneiderwerkstatt hört. Kinder, denen man ansieht, dass sie viel zu schnell erwachsen werden mussten.
Mehr Flüchtlinge, mehr Kinderarbeit
Kinderarbeit sei schon lange ein Problem in der Türkei, nicht nur unter Geflüchteten, sagt Sezen Yalçın. Sie arbeitet für die türkische Menschenrechtsorganisation Hayata Destek (Support to Life), die auch Flüchtlingskinder und ihre Eltern unterstützt. "Das spiegelt sich auch im Denken der Leute hier wider: Viele Menschen in der Türkei sind der Ansicht, es sei kein Problem, wenn Kinder arbeiten".
Die Zahl der Kinderarbeiter in der Türkei ist mit der Ankunft der vielen Flüchtlinge seit 2011 deutlich gestiegen, genaue Zahlen gibt es nicht. Mehr als drei Millionen Syrerhat die Türkei bis heute aufgenommen, so viele wie kein anderes Land weltweit. Und nirgendwo sonst leben inzwischen so viele geflohene Kinder: 1,2 Millionen sind es laut UNICEF. Doch nur wenige wohnen in den offiziellen Flüchtlingslagern im Südosten des Landes, nahe der syrischen Grenze. Die meisten Familien suchen ihr Glück in den Großstädten. Allein in Istanbul leben laut Schätzungen bis zu einer Millionen Geflüchtete.
Die meisten der syrischen Kinder, die in der Türkei arbeiten, seien dort zur Schule gegangen, sagt Sezen Yalçın. "Das ist ein sehr drastischer Bruch in ihrem Leben. Wenn sie anfangen zu arbeiten, dann endet ihre Kindheit - für eine Weile oder sogar für immer".
Dabei ist das Gesetz eindeutig: Kinderarbeit ist in der Türkei verboten. Wer Mädchen und Jungen unter 15 Jahren beschäftigt, macht sich strafbar. Trotzdem schuften die Kinder in der Textilindustrie oder in der Landwirtschaft - als Zuschneider oder Erntehelfer auf den Feldern. Überall dort, wo der türkische Staat nicht so genau hinschaut, wo Sozialabgaben und Arbeitsschutz keine Rolle spielen.
Zu wenig Schulplätze
Die türkische Regierung will eine Kindergarten- und Grundschulpflicht einführen und hat angekündigt, innerhalb der nächsten drei Jahre für jedes syrische Flüchtlingskind einen Platz an einer öffentlichen Schule zu schaffen. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Nach Angaben des türkischen Bildungsministeriums haben bislang mindestens 300.000 der 900.000 schulpflichtigen syrischen Kinder noch keinen Zugang zu Bildung. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass diese Zahl sogar noch höher ist.
"Die Kapazitäten der öffentlichen Schulen sind am Limit", sagt Sezen Yalçın. "Außerdem müssen die Lehrer ausgebildet werden, mit traumatisierten Kindern zu arbeiten. Es reicht nicht, ihnen einen Schulplatz zu geben - sie brauchen auch psychologische Hilfe".
Verzweifelte Eltern
Und viel zu oft ist es die Not der Eltern, die die Kinder in die Ausbeutung treibt. Aras hat zwei Schwestern, die Mutter ist wieder schwanger. Der Vater hat zwar einen Job, aber auch er arbeitet schwarz. Selbst mit dem Geld, das Aras dazu verdient, kommt die Familie kaum über die Runden. Die Zwei-Zimmer-Wohnung ist viel zu klein für alle, zu fünft schlafen sie in einem Raum. "Wir müssen Aras zur Arbeit schicken", sagt ihr Vater Abdurrahman Ali. "In Syrien hat mein Gehalt gereicht, um uns alle zu versorgen. Aber hier ist alles so teuer, ich schaffe es einfach nicht allein".
Zwar dürfen syrische Flüchtlinge seit Anfang 2016 Arbeitsgenehmigungen in der Türkei beantragen, doch in der Praxis ist das alles andere als einfach. Anfang 2017 waren nach Regierungsangaben erst weniger als ein Prozent aller Flüchtlinge im Besitz so einer Erlaubnis. Sezen Yalcın kennt das Problem nur zu gut. Ihre Organisation versucht Flüchtlinge auch bei den Behördengängen zu unterstützen. "Viele Eltern haben keine sichere Arbeit, von der sie leben können. Es ist wichtig, einen Zugang zum Arbeitsmarkt für diese Menschen zu schaffen, erst dann haben sie Chancen, sich hier zu integrieren."
Und erst dann, so die Hoffnung, müssen Kinder wie Aras nicht mehr arbeiten. "Klar, möchte ich zur Schule gehen, wie alle meine Freunde", sagt sie. Was sie mal werden will, wenn sie groß ist? "Lehrerin", sagt Aras und lächelt.