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Schatten der Stasi-Vergangenheit

19. November 2019

Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall ist Deutschland anfällig für das Gift der einstigen DDR-Geheimpolizei. Die Affäre um den Verleger der "Berliner Zeitung" zeigt, wie gegenwärtig die Vergangenheit sein kann.

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Deutschland Berlin Haus des Berliner Verlages Sitz der Berliner Zeitung
Der alte Sitz der Berliner Verlags am Berliner Alexanderplatz (Archivbild) Bild: Imago Images/Dean Pictures

Die Diktatur in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ist auch deshalb gescheitert, weil die zentralistische Planwirtschaft vor allem den Mangel verwaltete. Apfelsinen, Autos oder moderne Wohnungen waren keine Selbstverständlichkeit – im Gegenteil. Wenn überhaupt etwas boomte, waren es aufgeblasene staatliche Behörden und Institutionen. Bekanntestes und berüchtigtstes Beispiel: das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), im Volksmund "Stasi" genannt.

Eine ihrer wichtigsten Ressourcen war das riesige Heer sogenannter Inoffizieller Mitarbeiter (IM). Als die DDR in der friedlichen Revolution 1989/90 kollabierte, spitzelten fast 190.000 Menschen für die Stasi. Umgerechnet auf die 17 Millionen Einwohner des kommunistischen deutschen Teilstaats war also eine/r von 90 als IM aktiv. Darunter Überzeugungstäter, Opportunisten und Erpressungsopfer.

Eine ehemalige SED-Zeitung in der Hand eines Stasi-Spitzels

In diesem Zusammenhang kommt der frühere Soldat Holger Friedrich ins Spiel. Friedrich lieferte von 1987 bis 1989 belastende Berichte über Kameraden der Nationalen Volksarmee (NVA) und aus dem Umfeld der Kirche. Er war aber auch selbst ins Visier der Stasi geraten. Täter und Opfer in einer Person? Ganz genau kann das wenige Tage nach seiner Enttarnung durch die Wochenzeitung "Welt am Sonntag" (noch) niemand einschätzen. Und wahrscheinlich hätten sich für den einstigen IM "Peter Bernstein" auch nur wenige unmittelbar Betroffene interessiert, wenn der inzwischen 53-Jährige nicht vor kurzem in die Medienbranche eingestiegen wäre.                 

Deutschland Verleger Ehepaar Friedrich im Interview
Holger Friedrich alias IM "Peter Bernstein" 30 Jahre nach seiner Tätigkeit für die DDR-Geheimpolizei Stasi Bild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

Mit dem Kauf der "Berliner Zeitung" befindet sich eine der bekanntesten ehemaligen DDR-Gazetten in der Hand eines überführten Stasi-Spitzels. Eine solche, fast schon filmreife Story sorgt 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer dann doch für Aufsehen. Schließlich war die Zeitung von 1953 bis 1989 dem Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) unterstellt. Nach der politischen Wende trennte sich die Redaktion schrittweise von DDR-Altlasten. Mitte der 1990er Jahre mussten alle verbliebenen IM, die aufgeflogen waren, den Verlag verlassen. Damit wollten die Verantwortlichen ihren festen Willen unter Beweis stellen, glaubwürdig mit der Vergangenheit gebrochen zu haben. Um so bitterer muss es ihnen jetzt erscheinen, dass ihre Bemühungen vom neuen Verleger konterkariert werden.  

Stasi-IM in der eigenen Familie waren keine Seltenheit

Wirtschaftlich und publizistisch hat es die "Berliner Zeitung" aber auch ohne diese Begleitumstände schwer, sich unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen auf dem besonders hart umkämpften Berliner Zeitungsmarkt zu behaupten. Der Traum, eine Art "Washington Post" der wiedervereinigten deutschen Hauptstadt zu werden, platzte schnell. Mehrmals wechselte der Berliner Verlag, in dem die Zeitung erscheint, den Eigentümer. Doch trotz namhafter Chefredakteure, die unter anderem vom "Spiegel" und der von der "Süddeutschen Zeitung" kamen, ist das Blatt sein Ost-Image nie ganz losgeworden. Daran dürfte sich nach dem nun bekannt gewordenen Stasi-Fall so schnell nichts ändern.

Symbolbild Internationale Presse
"Konkurrenz belebt das Geschäft", heißt es. Die Stasi-Verstrickung ihres Verlegers dürfte der "Berliner Zeitung" eher schaden Bild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Abgesehen von der journalistischen Reputation und wirtschaftlichen Risiken zeigt die Causa Holger Friedrich aber auch, wie unberechenbar das Erbe der DDR-Geheimpolizei noch immer ist. Veröffentlichte Auszüge aus seinen Spitzel-Berichten lassen vermuten, dass der IM "Peter Bernstein" andere Menschen in Gefahr gebracht hat. Demnach berichtete er seinem Führungsoffizier, er habe einen Soldaten sagen hören, "dass sein jüngerer Bruder sich mit Ausreisegedanken Richtung BRD beziehungsweise Westberlin trägt".

Chefredakteure begehren Einblick in alle Stasi-Akten

Nach seiner Enttarnung behauptete Friedrich, sich mit dem von ihm ausgehorchten Soldaten abgesprochen zu haben, "welche Nachrichten an den MfS-Offizier weitergeleitet werden". Eine fragwürdige Darstellung, denn dieser Logik folgend hätte Friedrichs NVA-Kamerad seinen Bruder bewusst an die Stasi ausgeliefert. Warum aber sollte er das getan haben? Weil er unter Druck gesetzt wurde? Oder weil er seinen Bruder aus niederen Motiven verraten hat? IM, die in der eigenen Familie spionierten, waren keine Seltenheit.

Stasi-Akten Archiv Berlin Deutschland
Die Chefredakteure der "Berliner Zeitung" und des "Berliner Kuriers" wollen die Stasi-Akten ihres Verlegers lesenBild: picture-alliance/dpa/S.Pilick

Vielleicht gelingt es sogar der "Berliner Zeitung" selbst, Licht ins Dunkel zu bringen. Nach der Enttarnung ihres Verlegers am 15. November wurde eine Transparenz-Offensive gestartet. Gemeinsam mit dem ebenfalls Friedrich gehörenden Boulevard-Blatt "Berliner Kurier" will man "Fakten sammeln", heißt es in einer Stellungnahme der Chefredakteure. Sie begehren Einblick in die Stasi-Akten, "die Opfer- und die Täterakte".

Opfer Holger Friedrich? Tatsächlich misstraute die Stasi ihrem Spitzel auch und legte "wegen des begründeten Verdachts strafbarer Handlungen" den sogenannten Operativvorgang "Habicht" an. Friedrich wurde damit selbst beobachtet. Diese Episode seiner Stasi-Vergangenheit klingt entlastend. Nach seiner Enttarnung reagierte Friedrich in der "Berliner Zeitung" mit einer Erklärung in eigener Sache. Er sei wegen des Verdachts der "Republikflucht" verhaftet und mit der Aussicht auf eine mehrjährige Haftstrafe konfrontiert worden.

Im Visier der Stasi

Um sich der "akuten Zwangssituation" zu entziehen, habe er seine Bereitschaft erklärt, eine "Wiedergutmachung" zu leisten. So will der  erfolgreiche Geschäftsmann vor mehr als drei Jahrzehnten zum Stasi-Spitzel geworden sein. Bis vor wenigen Tagen hat er darüber kein Wort verloren. Aus Scham? Aus Angst, dass man ihm dann den Berliner Verlag nicht verkauft hätte?

In der Tat ist es eher unwahrscheinlich, dass der Deal dann über die Bühne gegangen wäre. So gesehen ist Friedrichs Schweigen erklärbar. Was bleibt, ist die Flucht vor der Verantwortung. Wie so viele vor ihm enttarnte Stasi-IM will er niemand geschadet haben. Doch woher will Friedrich das wissen? Die aus seiner Stasi-Akte bekannt gewordenen Details lassen eher das Gegenteil vermuten.

Der Stasi-Fall Holm belastete Rot-Rot-Grün in Berlin

Sein Fall scheint deshalb auch gravierender zu sein als der des 2017 nach kurzer Amtszeit zurückgetretenen Berliner Staatssekretärs Andrej Holm, der von den Linken aufgestellt worden war. Dieser hatte im Jahr 2007 in einem taz-Interview seine Stasi-Zugehörigkeit öffentlich gemacht. Kurz nach seiner Ernennung zum Staatssekretär im Jahr 2016 wurde bekannt, dass der Sozialwissenschaftler im Jahr 2005 gegenüber der Humboldt-Universität falsche Angaben zu seiner Stasi-Tätigkeit gemacht hatte. Der Skandal gefährdete vorübergehend die damals gerade erst gebildete Landesregierung aus Sozialdemokraten, Linken und Grünen. 

So unterschiedlich diese beiden Stasi-Enthüllungen auch sind – weder der eine noch der andere offenbarte sich aus freien Stücken. Für Andrej Holm gilt dies jedenfalls im Verhältnis zur Humboldt-Universität. 2017 räumte er in einer Erklärung ein: "Ich bin mir heute bewusst, dass ich gegenüber der HU objektiv falsche Angaben hinsichtlich meiner Tätigkeit für das MfS gemacht habe. Ich bedauere das und ebenso, dies nicht sofort gegenüber der HU zum Ausdruck gebracht zu haben." Holm kam schließlich mit einem blauen Auge davon. Die Humboldt-Uni nahm nach massiven Studenten-Protesten die bereits ausgesprochene Kündigung zurück und beließ es bei einer Abmahnung. 

Für Stasi-Akten-Chef Roland Jahn ist der Einzelfall entscheidend  

"Das Lügen darf nicht belohnt werden"

Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, plädiert grundsätzlich für einen differenzierten Umgang mit Stasi-Fällen. Vorbildlich findet er das Verhalten des Bundestagsabgeordneten Thomas Nord. Der Linken-Politiker hatte sich schon kurz nach dem Mauerfall zu seiner Stasi-Vergangenheit bekannt. "Das würde ich mir von vielen Anderen auch wünschen", sagte Jahn im Sommer in einem Interview mit der Deutschen Welle.  

Anmerkung: Wir haben die Berichterstattung am 21.11.2019 redaktionell überarbeitet.