Scharfe Kritik an Abzugsplänen
16. März 2012Die Ankündigung kam für viele unerwartet: "Afghanistan möchte den Abzug der Nato-Kampftruppen um ein ganzes Jahr vorziehen - also auf 2013 statt, wie bisher geplant, Ende 2014", teilte der afghanische Präsident Hamid Karsai am Donnerstag (15.03.) mit. Bisher hatte die afghanische Regierung stets an dem vereinbarten Abzugstermin Ende 2014 festgehalten. Doch nach dem Massaker an 16 Zivilisten durch einen US-Soldaten in der vergangenen Woche forderte Karsai nun, dass alle internationalen Truppen die Dörfer Afghanistans umgehend verlassen und sich in ihre Stützpunkte zurückziehen sollten.Die afghanische Polizei und Armee seien schon jetzt in der Lage, die volle Sicherheitsverantwortung im ganzen Land zu übernehmen, sagte General Azimi, Sprecher des afghanischen Verteidigungsministeriums: "Unser Minister sagt, dass unsere Armee stark genug ist. Wenn der Minister das so sagt, dann muss er es doch wissen."
"Afghanische Sicherheitskräfte überfordert"
Offiziell verfügt Afghanistan zur Zeit über 320.000 Polizisten und Soldaten. Azimi, der in der Regel für seine klaren Worte bekannt ist, will keine Details zu der jetzigen Stärke der afghanischen Armee nennen. Auch er scheint von der Ankündigung des Präsidenten und seines Verteidigungsministers überrascht worden zu sein. Was der erfahrene General - er ist seit mehr als drei Jahrzehnten in der Armee - offenbar nicht aussprechen möchte, tun afghanische Militär-Experten umso deutlicher: "Die afghanische Armee ist nicht einmal in der Lage die vielen privaten Armeen der 'Warlords' zu entwaffnen", sagt Assadullah Walwalgi, der einst selbst Kampftruppen befehligte. "Wie sollen sie dann gegen die Gefahren aus dem In- und Ausland vorgehen?"
Wie viele Menschen in Afghanistan, zweifelt auch Walwagi daran, dass die lokalen Streitkräfte tatsächlich in der Lage sein werden, allein für die Sicherheit im ganzen Land zu sorgen. "Die afghanische Armee verfügt weder über Luftwaffen- noch über Panzereinheiten. Wie will die Regierung mit schlecht ausgebildeten und schlecht ausgerüsteten Kampfeinheiten in einem riesigen Land, das fast doppelt so groß ist wie Deutschland, gegen die Aufständischen vorgehen?" fragt der Militärexperte. Eine Antwort auf diese Frage bleiben die afghanischen Generäle schuldig.
Karsai als Beschützer der Nation?
Dabei hatte selbst der afghanische Innenminister Bismillah Muhammadi schon vor einigen Monaten große Mängel bei den afghanischen Sicherheitskräften eingeräumt: "Wir sind noch nicht in der Lage, selbst für uns zu sorgen. Wir haben nicht die notwendigen Waffen, es fehlt uns aber auch an notwendiger Ausbildung. Zwar steigt die Zahl der Polizisten, doch Quantität ist nicht gleich Qualität."
Das größte Problem von Afghanistans Polizei und Armee ist jedoch nach Ansicht von afghanischen Militärexperten die Loyalität der Soldaten. Viele Angehörigen der Streitkräfte fühlen sich je nach Stammeszugehörigkeit eher den regionalen Machthabern, oder 'Warlords', verpflichtet, als der afghanischen Regierung. Diese Tatsache sei Hamid Karsai durchaus bekannt, sagt Afghanistan-Experte Sayfudin Sayhoon. Er wirft dem Präsidenten Populismus und eine kurzsichtige Politik vor: "Karsai will die jetzige anti-amerikanische Stimmung für sich nutzen und sich als den großen Beschützer der Nation darstellen. Dabei sind seine Forderungen identisch mit denen der USA. Die USA selbst wollen sich so schnell wie möglich aus den Kampfhandlungen zurückziehen. Karsai will den Eindruck erwecken, dass er die NATO zum früheren Abzug gezwungen hat."
Kühle Reaktionen im Ausland
Die Reaktionen aus Washington auf die Forderungen des afghanischen Präsidenten fallen bislang relativ kühl aus. "Wir werden an unserem Abzugsplan bis Ende 2014 festhalten", hieß es aus den USA. Die deutsche Bundesregierung äußerte sich ähnlich. Die NATO verweist auf die kommende Sitzung ihrer Mitglieder Ende Mai in Chicago. Erst dann werde man entscheiden, wie schnell die rund 130.000 NATO-Soldaten, die sich zurzeit in Afghanistan befinden, das Land verlassen werden.
Autor: Ratbil Shamel
Redaktion: Ana Lehmann