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Politik

Vergewaltigungs-Drama spaltet Pakistans Kino-Publikum

Esther Felden | Beenish Javed
28. November 2017

Eine Frau, die nach einer Vergewaltigung nicht stumm leidet, sondern auf Rache sinnt. Darum geht es in einem neuen pakistanischen Film, der dort jetzt in den Kinos läuft. Und der hitzige Debatten ausgelöst hat.

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Standbild aus dem Film: Mahira Khan als Verna
Bild: HUM Films/Shoman Production

Die Heldin Sara verkörpert, was sich viele wünschen -  Jugend, Schönheit, Erfolg. Dazu ist sie gebildet, sie arbeitet als Lehrerin. Und sie ist verheiratet. Kurz gesagt: Sara führt ein gutes Leben. Aber dann ändert sich für sie alles, von einem Moment zum anderen. Während eines gemeinsamen Ausflugs mit ihrem Ehemann wird sie verschleppt und über mehrere Tage vergewaltigt. Täter ist der Sohn eines Gouverneurs, ein einflussreicher Mann. Nach ihrem Martyrium setzt Sara alles daran, dass er für seine Verbrechen bestraft wird. Aber sie stößt schnell an Grenzen: Von Polizei und Justiz bekommt sie keine Unterstützung. Nachdem sie auf offiziellem Weg nicht weiterkommt, beschließt sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Nach eigenen Regeln. 

Filmstill von "Verna"
Sara ist eine selbstbewusste Frau, sie arbeitet als LehrerinBild: Verna

Der Film, der Mitte November in Pakistan in die Kinos kam, bricht gleich mit mehreren Tabus. Er behandelt ein heikles Thema, über das in dem konservativ geprägten muslimischen Land öffentlich lieber geschwiegen wird. Und er behandelt es in einer Art und Weise, die neu, untypisch und für viele offenbar nicht akzeptabel ist. Denn in diesem Fall findet sich die vergewaltigte Frau nicht still mit ihrer Opferrolle ab. Sondern sinnt im Gegenteil auf Rache und greift zur Selbstjustiz.

Fast auf dem Index gelandet

Dass "Verna" (das Wort auf Urdu bedeutet soviel wie "Wehe dir") es überhaupt auf die Leinwand geschafft hat, hing bis zuletzt am seidenen Faden. Ursprünglich hatten die Zensoren vom Central Board of Film Censors (CBCF) dem Film keine Genehmigung gegeben. Grund: schlüpfrige und nicht jugendfreie Inhalte. Nicht nur Frauenrechtsaktivistinnen kritisierten das drohende Verbot scharf. Bei Twitter wurde eine eigene Kampagne für die Veröffentlichung gestartet: #UnbanVerna.

Unter den Befürwortern dieser Kampagne ist auch Bollywood-Star Deepika Padukone. Die indische Schauspielerin ist selbst gerade aufgrund ihres neuen Films "Padmavati" Mittelpunkt einer Kontroverse. Weil es darin eine Liebesszene zwischen einer Hindu-Königin und einem muslimischen Sultan geben soll, liefen hinduistische Hardliner Sturm gegen den Streifen. Ein ranghoher Politiker der Regierungspartei BJP setzte sogar ein Kopfgeld von umgerechnet 1,6 Millionen Dollar auf Padukone aus. Der Film sollte eigentlich Anfang Dezember in die indischen Kinos kommen, der Start wurde aber aufgrund der Ereignisse abgesagt.

Filmstill von "Verna"
Bei einem Ausflug mit ihrem Ehemann wird Sara verschleppt und dann über Tage vergewaltigtBild: Verna

Gesellschaftliche Veränderungen dank Kino?

So weit kam es bei "Verna" nicht. Wenige Stunden vor der geplanten Premiere lenkten die Zensoren ein. Gulalai Ismail, Aktivistin der NGO Aware Girls, begrüßt die Entscheidung im Gespräch mit der DW. "Dieser Film ist wichtig. In unserem Land werden jeden Tag drei Frauen vergewaltigt. Und sogar Kinder. Wenn wir eine gesunde Gesellschaft haben wollen, müssen wir über solche Themen sprechen. Filme haben das Potenzial, eine Gesellschaft zu verändern." 

Und das, so findet Ismail, sei dringend nötig. Vergewaltigung sei ein großes gesellschaftliches Problem. Genau wie der Umgang damit. "Die Medien und die Gesellschaft beschuldigen in der Regel die Opfer, niemand spricht über die Täter." Genau das war auch ein Anliegen von Regisseur Shoaib Mansoor. Ihm ging es darum, zu zeigen, wie Eliten in Pakistan über dem Gesetz zu stehen scheinen. "Ich wollte einen Film darüber machen, wie die herrschenden Klassen ihre Macht ausüben und missbrauchen. Ich habe mich für das Thema Vergewaltigung entschieden, weil das die gängigste Form ist, Macht gegenüber Frauen auszuspielen. Und ich bin davon überzeugt, dass es bei Vergewaltigung im Kern genau darum geht: Macht über einen Menschen auszuüben."

Lob und Verteufelung

Gespielt wird Sara von Mahira Khan, einer in Pakistan bekannten Schauspielerin. Für die Hauptdarstellerin war die Rolle eine große Herausforderung. "Sie ist nicht so, wie sich die Gesellschaft ein Vergewaltigungsopfer vorstellt", so Khan in einem Zeitungsinterview. "Sara ist eine Frau, die nicht in Selbstmitleid versinkt. Wir wollten auch nicht, dass das Publikum Mitleid mit ihr hat, sondern sie gewissermaßen anfeuert – und gleichzeitig anerkennt, dass das, was sie durchmachen musste, furchtbar ist."

Filmstill von "Verna"
Sara will sich nicht in eine Opferrolle drängen lassen, anders als viele Frauen, die ähnliches durchleiden, will sie sich wehren und sinnt auf RacheBild: Verna

Die Meinungen zu dem Film gehen weit auseinander. Während Frauenrechts-Aktivisten ihn als Meilenstein preisen, ist er für konservative Schichten ein rotes Tuch. "Ein gemäßigtes oder durchschnittliches Urteil gibt es praktisch nicht", sagt Afia Salam. Die Handlung möchte die freie Journalistin aus Karatschi selbst nicht kommentieren, die Debatte um den Film verfolgt sie aber genau. " Die Ansichten dazu sind absolut gegensätzlich, reichen von fantastisch bis grauenhaft. Und dabei geht es um verschiedene Aspekte: um die Handlung, die schauspielerische Leistung und natürlich das Thema an sich."

Die Tatsache, dass ein Thema wie Vergewaltigung auf der Leinwand behandelt wird, sei aber nicht der Grund dafür, dass einige den Film grundsätzlich verdammen, erklärt Salam. "Die Kontroverse dreht sich vielmehr darum, wie dieses heikle Thema angepackt wurde. Einige halten den Ansatz für kühn und mutig, andere sagen, dass das Thema dadurch trivialisiert wurde."

Standbild aus dem Film Verna: Hauptdarstellerin Mahinda Khan (Sara)
Nachdem sie auf offiziellem Weg keine Hilfe findet, ihren Peiniger zu bestrafen, beschließt Sara, zur Selbstjustiz zu greifenBild: Verna

"Potenzial verschenkt"

Genau das kritisiert Rahul Aijaz in der "Express Tribune", einer englischsprachigen Tageszeitung in Pakistan, die mit der internationalen Ausgabe der New York Times kooperiert. Der Film hätte eigentlich das Potenzial, den Zuschauer bis ins Mark zu erschüttern und ein Flaggschiff für gesellschaftlichen Wandel zu werden, schreibt der Autor. Aber diese Erwartungen würde er nicht erfüllen.

Der Erzählstil sei schwach, das Tempo des Films absurd, heißt es dort. "Jedes Mal, wenn man gerade anfängt, sich in Saras Rolle hinein zu denken, kommt ein Schnitt und reißt den Zuschauer heraus. Und dann geht es einfach mit einer anderen Szene weiter." Nie würde der Film daher die Intensität entwickeln, die er eigentlich bei diesem Thema haben könnte. Allerdings lobt er die schauspielerische Leistung von Hauptdarstellerin Mahira Khan als "einzigen Grund, den Kinosaal nicht vorzeitig zu verlassen".

Filmstill Verna
Die Vergewaltigung stellt das Leben des jungen Paares komplett auf den KopfBild: HUM Films/Shoman Production

Die Figur der Sara an sich aber findet der Autor der "Express Tribune" wenig überzeugend. "Für ein Vergewaltigungsopfer schüttelt Sara das Erlebte viel zu schnell ab und will sich nur noch für ihren Schmerz rächen. Ihr innerlicher Gefühlskampf wird vom Regisseur nicht ausreichende hervorgehoben, sie wirkt schlicht und ergreifend nicht ausreichend 'zerstört'."

Umdenken der Filmbranche?

Genau das soll sie aber auch nicht, sagt Regisseur Shoaib Mansoor. Er hat sich bewusst dafür entschieden, einen für pakistanisches Publikum unüblichen Ansatz zu verfolgen. "Ich wollte mich an westlicher Schauspielerei orientieren. Das bedeutet: kontrollierte Emotionen auch in dramatischen Situationen." So gibt es beispielsweise eine Szene im Film, in der Sara mit dem Tod ihres Vaters konfrontiert wird. "Sie spielt das stumm, nur über ihre Mimik. Ich denke, dass wir uns in Pakistan weiterentwickeln sollten – weg von diesen sehr lauten und theatralischen Elementen, die unsere Filme und Fernsehserien ausmachen. Und hin zu einer reiferen und anspruchsvolleren Art, Geschichten zu erzählen und darzustellen."

Insgesamt, so gibt der Regisseur zu, hätte er noch mit deutlich mehr Widerstand gegen seinen jüngsten Film gerechnet. Mansoor hat Erfahrung damit, schwierige Themen zu verfilmen. Einer seiner Filme handelt von einer Familie, deren Tochter Transgender ist und als Sohn erzogen wird. In einem anderen geht es um die Situation von Muslimen nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Popcorn-Kino, das mag er nicht, sagt er. "Mir reicht es nicht, reine Unterhaltungsfilme zu machen. Mir geht es darum, etwas Bedeutsames zu schaffen."

Ganz generell müsse sich etwas ändern in Pakistans Filmindustrie, sagt Mansoor. Ähnlich wie bei vielen Bollywood-Filmen seien auch pakistanische Filme oft ein buntes Gemisch aus unterschiedlichsten Stilrichtungen. "Wir sollten aufhören, alle möglichen Genres in ein und denselben Film zu packen. Westliche Filme sind meist klar einem Genre zuzuordnen: Es gibt Komödien, Action-Filme, romantische Filme oder Dramen. Hier bei uns gibt es all das in einem Film. Das muss sich ändern." An den Kinokassen jedenfalls hat sich der Wirbel um die Freigabe von "Verna" zunächst einmal ausgezahlt.  Am Premieren-Abend waren viele Vorstellungen schon lange im Voraus ausverkauft.