Sand im Getriebe des chinesischen Aufschwungs
9. Juni 2006Die Warnung ist unmissverständlich: Mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten sperren ab Windstärke zehn die einzige Verbindungsstraße von Ürumqi nach Turfan ab. Der Himmel verdunkelt sich, die Bäume neigen sich bedrohlich und niemand verlässt freiwillig Haus oder Auto. Hier in den Wüsten im Nordwesten und Norden Chinas bilden sich regelmäßig jene gewaltigen Orkane, die mit Windstärke zwölf und mehr über das Riesenreich hinwegfegen und eine Schneise der Verwüstung zurücklassen: Die Strom- und Wasserversorgung fällt aus, Hütten stürzen ein, das Telefonnetz bricht zusammen, unzählige Windschutzscheiben gehen zu Bruch, dutzende Lastwagen liegen umgestürzt im Graben.
Chinas Wilder Westen
Seit Jahrhunderten schon trotzen die Völker der Seidenstraße den Wüsten Taklamakan und Gobi. Doch der alte Glanz ist längst vergangen, und der neue wirtschaftliche Boom der Küstenregionen ist in der autonomen Region Xinjiang nie angekommen. Das bekommt vor allem die muslimische Minderheit der Uiguren zu spüren. Immer wieder kommt es deshalb zu schweren Unruhen, die das zweieinhalb tausend Kilometer entfernte Peking stets mit brutaler Härte niederschlägt. Denn es fürchtet die Abspaltung der strategisch wichtigen Provinz "Ostturkistan" und rechtfertigt sein hartes Vorgehen als Chinas Beitrag im "Krieg gegen den Terror".
Zwischen Wirtschaftsentwicklung und Umweltschutz
Die Unzufriedenheit der Landbevölkerung, die dramatische Wasserknappheit und die Ausbreitung der Wüsten könnten mittelfristig sogar den chinesischen Aufschwung gefährden. 200 Milliarden US-Dollar kosten Umweltzerstörung und Ressourcenverschwendung jährlich, berichtet das Anfang Juni in Peking offiziell veröffentlichte neue Weißbuch zur Umweltsituation. Das entspricht in etwa dem Wirtschaftswachstum Chinas. Mehr als ein Viertel der chinesischen Bevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Selbst in der Hauptstadt kommt es beim Wasser immer wieder zu Versorgungsengpässen. Regelmäßig wird Peking von schweren Sandstürmen heimgesucht. Rund 300.000 Tonnen Sand hat allein der letzte große Sandsturm in die 14-Millionen-Metropole geweht, die sich vor allem im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 sichtlich bemüht, eine weitere Ausbreitung der Wüsten einzudämmen. Denn die intensive Landwirtschaft, der Kahlschlag der vergangenen Jahrzehnte und die rasante Industrialisierung haben ihre Spuren hinterlassen.
Eine Grüne Mauer gegen die Erosion
Um den Wind und damit die weitere Ausbreitung der Wüsten zu stoppen, werden im ganzen Land Waldgürtel angelegt. Das ehrgeizigste Projekt ist das "Drei-Norden-Schutzwald-Programm", das für sich in Anspruch nimmt, das größte Aufforstungsprojekt der Welt zu sein. Die "Grüne Mauer" umfasst insgesamt dreizehn Provinzen und erstreckt sich über eine Länge von fast 4500 Kilometern. In knapp 80 Jahren sollen so 35 Millionen Hektar aufgeforstet werden, eine Fläche von der Größe Deutschlands. Rund 13 Millionen Hektar wurden inzwischen bereits begrünt oder regeneriert – meist mit schnell wachsenden Pappeln, denn die geben dem Boden Halt und brauchen kaum Wasser.
Allerdings musste China erst einmal aus seinen Fehlern lernen, denn zunächst ließ Peking im Zuge der Massenaufforstungskampagnen riesige Monokulturen anlegen. Doch diese oftmals "einklonigen" Setzlinge waren extrem anfällig für Krankheiten und Schädlinge, so dass in früheren Jahren große, bereits aufgeforstete Flächen wieder vernichtet wurden. Inzwischen setzt China - auch mit deutscher Hilfe - auf eine weniger anfällige Mischwaldbewirtschaftung.
Fragiles Ökosystem, gesellschaftliche Spannungen
Da die Erträge aus der Waldwirtschaft jedoch lange auf sich warten lassen, werden längst nicht mehr nur Schutzwälder angepflanzt, sondern auch Nutzbäume wie Obst- oder Nussbäume, um der ländlichen Bevölkerung ein zusätzliches Einkommen zu ermöglichen und um die Akzeptanz der Landbevölkerung für diese Aufforstungsprogramme zu erhöhen. Denn an der Notwendigkeit einer effektiven Wüstenbekämpfung besteht zumindest in Peking keinerlei Zweifel. Jedes Jahr verliert China rund 2500 Quadratkilometer, das entspricht in etwa der Fläche des Saarlandes, an die Wüsten. Der Lebensraum von mehr als 100 Millionen Chinesen ist bedroht.
Inzwischen haben die alarmierenden Berichte über den Raubbau an der Natur auch im Reich der Mitte zu einem vorsichtigen Umdenken geführt: Die jetzige Regierung bemüht sich um eine Synthese aus Wirtschaftswachstum und Umweltschutz. Denn das chinesische Wirtschaftswunder hat zwar viele Gewinner, aber eben auch zwei große Verlierer: die arme Landbevölkerung und die Umwelt. Wenn es Peking gelingt, dass die Wirtschaft nicht länger zulasten der Umwelt wächst, und wenn auch die ländliche Bevölkerung in den Aufschwung einbezogen wird, kann China doppelt profitieren: Es könnte nicht nur die Wüstenbildung, sondern auch die sozialen Spannungen in den Griff bekommen.