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Russland: Alles unter Kontrolle?

19. April 2007

Die aktuellen Ereignisse im Land lassen viele russische Beobachter Vergleiche mit der Sowjetzeit ziehen: Die Staatsmacht übe einen paranoiden Kontrollzwang aus. Dieser richtet sich nicht nur gegen Demonstranten.

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Sicherheitskräfte gehen gegen Demonstranten in Moskau vor (14.04.2007)Bild: AP

Die russische Menschenrechtsorganisation "Moskauer Helsinki-Gruppe" und die Bewegung "Für Menschenrechte" haben angekündigt, eine öffentliche Kommission zu bilden, die das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen oppositionelle Demonstrationen am 14. und 15. April in Moskau und Sankt Petersburg untersuchen soll. Den Angaben der Bürgerrechtler zufolge waren Milizionäre sowie Angehörige der OMON und anderer Sondereinheiten gewaltsam gegen friedliche Bürger und Journalisten vorgegangen – ohne provoziert worden zu sein.

Kritik an Einsatzkräften

Die Leiterin der Jugendbewegung "Ja!", Marija Gajdar, die auf dem Moskauer Puschkin-Platz vorübergehend festgenommen wurde, berichtete in einem Telefongespräch mit der Deutschen Welle, dass wegen der Beteiligung am "Marsch des Widerspruchs" zwischen 170 und 200 Menschen in Gewahrsam genommen worden seien. Darunter war auch der Führer der Vereinigten Bürgerfront, Garri Kasparow. "Wir wurden ohne Angabe von Gründen festgehalten, nicht von Milizionären, sondern von OMON-Kräften. Wir betrachten das Vorgehen als verbrecherischen Übergriff. Festgehalten wurden nicht nur junge Menschen, sondern auch alte", berichtet Gajdar.

Die oppositionellen Demonstrationen waren von den Behörden nicht genehmigt worden. "Wir müssen die Staatsmacht über eine solche Aktion nur benachrichtigen. Sie ist nicht berechtigt, eine oder keine Erlaubnis zu geben", so Gajdar. "Das Gesetz besagt, dass wir nach einer Benachrichtigung eine Aktion durchführen und Menschen aufrufen dürfen, daran teilzunehmen." Gajdar unterstrich, die Menschen hätten nicht gesetzeswidrig gehandelt, sie hätten weder Losungen ausgerufen noch Fahnen geschwenkt. "Die Menschen hielten Blumen in ihren Händen. Sie haben das Recht, frei herumzugehen, auch wenn daraus später eine Kundgebung werden sollte", erläutert Gajdar. "In dem Moment, als sie gestoppt wurden, störten sie nicht einmal den Verkehr."

Vergleich mit Sowjetzeit

Die Bilder vom rücksichtslosen Vorgehen der Rechtsschutzorgane gegen die Demonstranten gingen um die Welt. Die Deutsche Welle fragte Wladimir Ryschkow, Abgeordneter der Staatsduma, warum die russischen Behörden derart ihre Macht demonstrieren mussten. "Ich denke, das ist geschehen, weil die Hauptlosungen der Menschen auf der Straße lauteten: ‚Nieder mit dem autoritären Regime!‘ und ‚Nieder mit dem Polizeistaat!‘" Ryschkow hatte den "Marsch des Widerspruchs" mitorganisiert. Er vergleicht die Situation im heutigen Russland mit der in der Sowjetunion in den 1970er Jahren: Schon damals waren diejenigen, die sich für den Schutz der Menschenrechte, die Achtung der Verfassung sowie für Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit einsetzen, als "Extremisten" bezeichnet worden.

Die Staatsmacht fürchte sich vor den Menschen, weil, so die Umfragen, die Mehrheit der Russen für das Recht auf Demonstrationen, auf freie Wahlen und Informationsfreiheit eintreten würde. "Noch findet der Protest im Verborgenen statt, aber die Staatsmacht befürchtet, dass der Protest gegen das autoritäre System offene Formen annehmen könnte", sagt Ryschkow. "Die Staatsmacht weiß genau, dass die bevorstehenden Wahlen nur eine Imitation freier Wahlen werden. Und die Staatsmacht weiß auch, dass ein großer Teil der Gesellschaft, vielleicht sogar die Mehrheit, an dieser Posse nicht teilnehmen und die Wahlergebnisse nicht anerkennen wird." Die Gesellschaft werde im Voraus eingeschüchtert, um später die so genannten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen legitimieren zu können, meint Ryschkow.

"Polizeistaat" fürchtet "Revolution"

Auch der Führer der Bewegung "Für Menschenrechte", Lew Ponomarjow, meint, die russische Staatsmacht versuche die Bürger deshalb einzuschüchtern, weil sie eine Revolution fürchte. "Es sind unbestritten politische Gründe. Es herrscht die panische, übertriebene Angst vor einer ‚Orangenen Revolution‘", sagt Ponomarow mit Blick auf die Geschehnisse in der Ukraine vor zwei Jahren. "Zu einer ‚Orangenen Revolution‘ kann es aber nur kommen, wenn Hunderttausende auf die Straße gehen, denn dann wäre die Miliz machtlos." Auf eine Menschenmenge schießen könne man nicht – aber eben diese Menschenmenge könne dem politischen Regime ihren Willen aufdrängen, "wie es in Ukraine war". Russland sei allerdings noch nicht so weit, betont Ponomarjow. Deshalb sei das Vorgehen der Staatsmacht derzeit nur als "paranoide Angst vor einer ‚Orangenen Revolution‘" zu betrachten.

Ponomarjow sagte der Deutschen Welle, Russland verwandle sich immer mehr in einen Polizeistaat. "Klar ist, dass im Fall ‚Moskau und Sankt Petersburg’ alle Entscheidungen der Präsident Russlands, Wladimir Putin, getroffen hat." Dadurch sei Russland ein großes Stück abgekommen vom europäischen Weg, auf dem sich das Land bewege – jedenfalls nach der Auffassung des Präsidenten. Allerdings bewege sich der Präsident "genau in die andere Richtung", hat Ponomarjow festgestellt. "Ein Polizeistaat kann nicht offen sein."

Die Gespräche führte Viacheslav Yurin
DW-RADIO/Russisch, 16.4.2007, Fokus Ost-Südost