Eröffnung der Ruhrtriennale
15. August 2015Eine große, leere Industriehalle. Die Besucher schlurfen durch den staubigen Schotter, genauso wie die Schauspieler. Die gesamte Halle ist ihre Bühne, ein über 200 Meter langes Tonnengewölbe, 64 Meter breit. An einem Ende die Tribüne für die Zuschauer, am anderen Ende durch die offene Halle der Blick in die Natur.
Es ist nicht die übliche Eröffnung der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle, die als Veranstaltungsort bereits lange erschlossen ist. Johan Simons, der neue Leiter des Festivals, hat sich bewusst für diese abgelegene Kohlenmischhalle am Rande des Ruhrgebiets in Dinslaken-Lohberg entschieden, um die Uraufführung seines Musiktheaterstücks "Accattone" zu zeigen. Keine Industrieromantik, sondern Dreck und Staub. "Hier muss man richtig arbeiten, um so eine Bühne zu bespielen, und die Schauspieler müssen wirklich 'tough' sein", betont Simons.
Die Frage nach dem Stellenwert der Arbeit
Genau darum geht es dem niederländischen Theaterregisseur: um die Arbeit, die Arbeitslosen am Rande der Gesellschaft und um die Industriekultur des Ruhrgebiets. Die gesamte Zeche Lohberg wurde 2006 still gelegt. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren und sehen kaum eine Perspektive. Johan Simons beschäftigt die Frage, wie die Arbeit unser Leben beeinflusst, und ob man den Stellenwert von Arbeit in einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen für die Arbeit gebraucht werden, nicht neu überdenken muss.
Mit "Accattone" will er dazu anregen. In der Adaption des gleichnamigen Films des italienischen Filmemachers Pier Paolo Pasolini geht es um einen Schmarotzer, einen "Accattone". Von der Arbeit hält er nicht viel und verdient stattdessen in den 1960er Jahren sein Geld als Zuhälter. Wer arbeitet, den lacht Accattone aus. Doch dann landet er in der Gosse und fleht immer wieder sein Ende herbei. Das Collegium Vocale Gent unter Phillippe Herreweghe singt zur brutalen Realität von Gewalt und Prostitution Bachkantaten von himmlischer Erlösung.
Die Ruhrtriennale bürgernah?
Ob diese Art Theater auch bei den Lohbergern ankommt? Schließlich zieht die Ruhrtriennale seit jeher eher ein elitäres bürgerliches Publikum an. "Seid umschlungen" aus Schillers Ode an die Freude ist das Motto der diesjährigen Festspiele. Für Simons ein Symbol, alle einzubeziehen, auch die Arbeiter und Migranten von Lohberg. "Sie sollen kommen, um sich Bach anzuhören, damit sie einen anderen Blick auf die Welt bekommen."
Eyüp Yildiz, der Stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken, selbst türkischstämmig, hatte seine Zweifel. In einem offenen Brief beklagte er, dass der Spielort nur für die hochtrabende Kunst herhalte, die Bürger dabei aber außen vor blieben. Johan Simons ließ das nicht unberührt: "Wir haben die Leute zu einer Grillparty auf den Marktplatz eingeladen, und es gibt Vorstellungen speziell für Kinder, an denen sie kostenlos teilnehmen können."
Menschlichkeit, ein zentrales Anliegen für Johan Simons
Der holländische Theatermacher, bis vor kurzem Intendant der Münchener Kammerspiele, hat schon in den 80er Jahren Theater in Fabrikhallen und auf Industriebrachen gespielt: "Damals wollte ich Theater, also hohe Kunst, für Leute machen, die sonst nie ins Theater gehen. Diesem Prinzip bin ich treu geblieben."
Dinslaken-Lohberg gilt als Problembezirk. Nach der Zechenschließung haben hier Salafisten Fuß gefasst. "Da ist eine Leere entstanden und dort sind jetzt Rechtsextreme und Salafisten. Sie geben den Leuten eine Perspektive, eine schlechte Perspektive", meint Simons.
Er möchte diese "Leere" mit Kunst und Kultur füllen. Dabei ist ihm bewusst, dass der Großteil des Publikums nach wie vor aus dem zahlungskräftigen Bürgertum kommen wird. "Ich finde es auch wichtig, den Bildungsbürgern Geschichten zu erzählen, die ihnen ans Herz gehen, damit ein Mitgefühl entsteht." Das sei gerade jetzt in Deutschland schließlich ein großes Thema: "Wie gehen wir moralisch zum Beispiel mit den Flüchtlingen um? Damit möchte ich mich in der Kunst gerne auseinander setzten."
Mit Flüchtlingen zusammen sein
So arbeitet der kanadische Regisseur Darren O'Donnell bei der Ruhrtriennale mit Jugendlichen aus dem Ruhrgebiet und asylsuchenden Jugendlichen aus aller Welt. "Mir wurde gesagt, dass die deutsche Regierung aufpasst, dass Asylsuchende es sich nicht zu bequem machen in Deutschland und nicht irgendwelche tieferen Beziehungen zu den Menschen an den Orten aufbauen, an denen sie die Zeit absitzen", schreibt O'Donnell in einem Blog. Doch genau das will er erreichen. Das geplante Stück "Millionen! Millionen! Millionen!" handelt nicht von den Geschichten der Flüchtlinge, sondern von Geschichten, die durch das Zusammensein entstehen.
Auch bei anderen Produktionen dieser Ruhrtriennale gibt es immer wieder Anknüpfungspunkte an das Ruhrgebiet, seine Arbeitsstätten und seine Menschen. Richard Wagners Oper "Rheingold" etwa wird zu einer Geschichte über Industrialisierung, Kapitalismus und die sozialen Folgen. Und bei der Adaption von Monteverdis Oper "Orfeo" werden die Leute tatsächlich in verschiedene Räume unter Tage geführt, um die Aufführung zu erleben.
Nach der Arbeit kommt das Vergnügen
Doch die Festspiele sollen nicht nur künstlerisch und politisch anspruchsvoll sein. Johan Simons will auch feiern. Er will es "so richtig krachen" lassen. Deshalb gibt es auch erstmals im weitesten Sinne "Popmusik" bei der Ruhrtriennale: Eine lange Nacht der elektronischen Musik mit DJs aus aller Welt. "Eine Ruhrtriennale muss für mich ein Ort sein, wo sich Leute über etwas aufregen und wo Leute etwas lieben, das ist mir wichtig", sagt Simons.
Und was ist aus Accattone geworden? In Pasolinis Film stirbt der Antiheld am Ende, verfolgt von der Polizei, bei einem Motorradunfall. In der Kohlenmischhalle in Dinslaken stirbt er bereits, als er das erste Mal versucht, einer Arbeit nachzugehen. So scheint es jedenfalls auf den ersten Blick. Doch das Stück geht weiter, auch in den Köpfen der Zuschauer, wie man an den regen Diskussionen nach der Vorstellung merkt. Die Auseinandersetzung mit dem Thema ist Johan Simons zum Auftakt der Festspiele mit hervorragenden Schauspielern und einem professionellen Bach-Ensemble auf jeden Fall gelungen. Der Rest wird sich zeigen.